Alexander Klüe hat eine gute Nachricht für die Fahrgäste der Berliner S-Bahn. »Wir haben inzwischen mehrere mögliche Ursachen für die Störungen im Bereich Hackescher Markt–Friedrichstraße gefunden und behoben. Wir gehen davon aus, dass der Abschnitt nun wieder unauffälliger sein wird«, sagt der Leiter Anlagen- und Instandhaltungsmanagement Netz Berlin vom Infrastrukturbetreiber DB Infrago zu »nd«.
Zehnmal meldete die S-Bahn Berlin GmbH zwischen 10. Juni und 1. Juli Signal- oder Stellwerksstörungen. Fast jeden zweiten Tag wurde also in dieser rund dreiwöchigen Episode der Verkehr auf der zentralen Ost-West-Strecke in den Notfallmodus versetzt. Nur noch 12 statt 21 Züge pro Stunde und Richtung sind dann gefahren. Die Folge: oft drangvolle Enge in den Bahnen, zusätzliche Umsteigezwänge und Verspätungen. Durchschnittlich 4,5 Stunden dauerte es jeweils, bis die Störung behoben worden war.
»Die jüngsten Störungen auf der Stadtbahn gingen hauptsächlich auf die Gleisfreimeldeanlage im Bereich Hackescher Markt zurück«, sagt Experte Klüe. Die Folge: Rotausleuchtung. Die Signale zeigen dann dauerhaft Rot an.
In den allermeisten Fällen ist nicht das Signal an sich gestört, sondern ein Teil der Stellwerkstechnik[1]. Da die Technik immer zur sicheren Seite arbeitet, zeigt das Signal dann dauerhaft Rot an.
»Wenn die Signale wegen eines technischen Defekts dauerhaft auf Rot stehen, dürfen die S-Bahnen nur auf Befehl des zuständigen Fahrdienstleiters in den Abschnitt einfahren«, erläutert ein Sprecher der S-Bahn Berlin. »Das bedeutet: Jeder einzelne Zug muss vor Abfahrt mündlich den Befehl bekommen, was die Fahrdienstleiter sehr bindet.«
Doch warum dauerte es fast drei Wochen, bis das Problem behoben werden kann? Da muss Alexander Klüe etwas ausholen; zunächst, wie das dort verwendete System funktioniert. Nämlich »vereinfacht gesagt wie ein Stromkreis in einem vom Rest der Strecke isolierten Abschnitt, der über die gesamte Länge beider Fahrschienen führt«.
Werden die beiden Schienen, zum Beispiel durch den Radsatz eines Fahrzeugs elektrisch verbunden, führt das zu einem Kurzschluss. Im Stellwerk kommt die Meldung an, dass das Gleis durch einen Zug belegt ist, das Signal fällt für folgende Züge auf Halt. Wenn der Zug den Abschnitt wieder verlassen hat, wird der Stromkreis nicht mehr kurzgeschlossen[2].
»Die Technik sollte die Strecke wieder als frei erkennen, das Signal wieder auf Fahrt gestellt werden«, sagt Klüe. Doch das habe immer wieder nicht funktioniert; der Abschnitt blieb belegt und das Signal blieb auf Halt.
»Dann müssen Entstörer die Strecke begehen, um die Ursache für den dauerhaften Kurzschluss auf möglicherweise hunderten Meter Länge zu finden«, erläutert der Experte. Um die Sicherheit für das Personal zu gewährleisten, dürfen in dieser Zeit keine Züge fahren.
»Wir haben teilweise versucht, in einer 20-minütigen Sperrung tagsüber die Störung zu finden. Aber meistens machen wir das nachts in der Betriebspause«, so Alexander Klüe.
Die Ursachensuche gestaltete sich jedoch schwierig. »Teilweise hat der Kurzschluss nur wenige Minuten bestanden und dann nicht mehr. Wir nennen das dann ›flackern‹. Man muss dann nach Ursachen suchen, die nicht mehr zu sehen waren«, berichtet der Experte.
Diese dort verwendete sogenannte Niederfrequenz-Gleisstromkreistechnik war beim Einbau Mitte der 1990er-Jahre Stand der Technik. »Aber die Technik hat sich weiterentwickelt. Das Klima hat sich verändert. Wir erleben inzwischen starke Temperaturwechsel in kurzer Zeit, mit denen man damals nicht gerechnet hatte«, sagt Klüe. Das kann durch die Ausdehnung von Metall bei Wärme für ungewollte elektrische Verbindungen sorgen.
Dazu komme auf der Stadtbahn noch die gegenseitige elektrotechnische Beeinflussung der Fernbahn, die mit 15 000 Volt Wechselstrom betrieben wird und der S-Bahn, die mit 750 Volt Gleichstrom fährt.
Die Nachfolgetechnik ist längst etabliert. Inzwischen setzt die Bahn auf Achszähler. Die zählen bei Einfahrt in den Abschnitt alle Achsen eines Zuges und nochmal bei Ausfahrt aus dem Abschnitt. Wenn die Anzahl übereinstimmt, wird der Abschnitt wieder freigegeben.
»Bei einer Störung kann man dann auch den betroffenen Achszähler einfach tauschen und muss nicht hunderte Meter Strecke manuell überprüfen«, erläutert Klüe den Vorteil Auf den Fernbahngleisen ist diese Technik schon installiert und arbeite »sehr zuverlässig«.
»Teilweise hat der Kurzschluss nur wenige Minuten bestanden und dann nicht mehr.«
Alexander Klüe Signalexperte Deutsche Bahn
Doch ein paar Jahre müssen sich die Fahrgäste noch gedulden. »Auf den S-Bahngleisen der Stadtbahn soll die Leit- und Sicherungstechnik bis Mitte der 2030er Jahre komplett modernisiert sein. In dem betroffenen Abschnitt könnte dies schon zwei, drei Jahre früher der Fall sein, die Planungen sind soweit fertig«, sagt Klüe. Einen verbindlichen Termin könne die Bahn aber erst nennen, wenn die nötigen Sperrpausen festgelegt sind, also frühestens ab 2028. Für Bauarbeiten nötige Betriebsunterbrechungen werden mit einem Vorlauf von drei Jahren festgelegt.
Die Alttechnik ist jedoch noch an vielen weiteren Stellen im Netz verbaut, so auch im Nord-Süd-Tunnel. Immer wieder kommt es – auch in den letzten Tagen – auch dort zu Störungen.
Auch die S-Bahn Berlin hat großes Interesse an funktionierender Signaltechnik. Nicht nur, weil die Notfallprogramme nicht nur für die Fahrgäste, sondern auch für die Beschäftigten viel Stress bedeuten.
Auf der Stadtbahn fahren bei Signalen auf Dauerrot in der Regel nur noch die S7 im 10-Minutentakt und je alle 20 Minuten die Linien S3 und S9. Die Züge der S3, die regulär nicht bis Spandau fahren, müssen dann am Ostbahnhof enden.
Weil damit die Wendekapazität dort ausgeschöpft ist, endet die S5 bereits an der Warschauer Straße. Damit ist auch dort die Wendeanlage belegt, sodass die S75 von Wartenberg nur bis Lichtenberg fahren kann. »So hat eine Störung am Hackeschen Markt Auswirkungen bis in den Osten der Stadt«, sagt ein S-Bahn-Sprecher.