Am 10. Juli dieses Jahres verkündete das Bundesverfassungsgericht, dass Teile des Berliner Hochschulgesetzes gegen das Grundgesetz verstoßen, und das aus zwei Gründen. Ursprünglich war das Gesetz geschaffen, einer in der Wissenschaft weitverbreiteten Praxis Einhalt zu gebieten: der Kette dauerhaft befristeter Beschäftigungsverhältnisse, die vielen Forscherinnen und Forschern verlässliche Arbeits- und Lebensperspektiven verwehren.
Das Gericht beschloss nun allerdings, das Land Berlin habe mit den noch unter dem rot-rot-grünen Senat beschlossenen Regelungen zum einen seine Kompetenzen überschritten. Denn mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz liegt bereits eine konkurrierende bundesrechtliche Regelung vor. Diese Feststellung allein hätte gereicht, um das Berliner Vorhaben einer umfassenden Entfristung zu kippen.
Intuitiv scheint es auch plausibel, dass bei solch grundlegenden Fragen des Arbeitsrechts eine bundeseinheitliche Lösung notwendig ist. Schwer nachvollziehbar ist hingegen, warum gerade Berlin überhaupt ein Leuchtturmprojekt für unbefristete Stellen in der Wissenschaft etablieren sollte – in einem Staat, der außerhalb der Hauptstadt nicht im Entferntesten eine politische Mehrheit für ein solches Projekt erkennen lässt. Und selbst in Berlin ist diese Mehrheit seit dem Wechsel der SPD zur schwarz-roten Koalition Geschichte.
Zum anderen, und hier zeigt sich die eigentliche Brisanz des Urteils, verstoße die Berliner Regelung auch gegen die im Grundgesetz garantierte Freiheit der Wissenschaft – ein Begriff, der dort eher beschworen als präzise definiert wird. Diese zweite Begründung verdient eine breitere gesellschaftliche Diskussion, denn sie weist weit über die arbeitsrechtliche Dimension hinaus.
Deutlich wird: Das Bundesverfassungsgericht denkt die Freiheit der Wissenschaft nicht primär als individuelle Freiheit einzelner Forscher*innen, sondern als institutionelle Autonomie der Hochschulen in Personalfragen. In dieser Logik sollen Universitäten grundsätzlich selbst entscheiden dürfen, was ihnen und dem wissenschaftlichen Nachwuchs zuträglich ist – und der Staat sich möglichst heraushalten. Hochschulen erscheinen in dieser Sichtweise als souveräne Akteure auf einem globalen Marktplatz der Ideen, ausgestattet mit der größten Kompetenz zur Organisation wissenschaftlichen Fortschritts. Die Möglichkeit, »eigenverantwortlich zu entscheiden«, dürfe ihnen nicht genommen werden, heißt es in der Urteilsbegründung.
Diese Sicht ist bemerkenswert, weil sie einerseits ein komplexes Bild staatlicher Einflussnahme auf Wissenschaft zeichnet, andererseits aber einen blinden Fleck hat: die Gesellschaft. Universitäten erscheinen in diesem Modell als neutral und im luftleeren Raum operierende Institutionen, in denen nur die Kraft des besseren Arguments zählt. Doch diesem Ideal können Universitäten in der Realität kaum gerecht werden. Auch Hochschulen sind nicht automatisch frei, nur weil sich der Staat zurückhält. Ein nüchterner Blick auf die Praxis wissenschaftlicher Wissensproduktion zeigt, dass zahllose andere Rationalitäten im Spiel sind, bevor man auch nur in die Nähe jenes »selbstständigen Erkenntnisgewinns« gelangt, dem die Wissenschaftsfreiheit laut Gericht eigentlich dienen soll.
Was also tun, wenn sich zeigt, dass es bisweilen die Strukturen der Wissensgesellschaft selbst sind, die dem Fortschritt im Wege stehen? Wenn Nebenschauplätze – etwa politische Konjunkturen, Förderlogiken, Publikationszwänge – den wissenschaftlichen Prozess zunehmend überlagern? Hierfür gibt es nämlich zahlreiche Indizien.
Die Autonomie der Hochschulen wird ausgerechnet in der Personalpolitik verteidigt – durch die Verhinderung unbefristeter Stellen.
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Die projektbasierte Finanzierung, die vielerorts die Grundausstattung ersetzt hat, mag zwar kurzfristig neue Kreativität mobilisieren. Doch nicht alles, was sich gut als Projektantrag formulieren lässt, bringt nachhaltige Erkenntnisse hervor. Universitäten, die sich zunehmend als unternehmerische Akteure verstehen, werden sich außerdem zweimal überlegen, ob sie in teure, schwer vermarktbare Grundlagenforschung investieren. Ob die Freiheit der Wissenschaft – verstanden als reine staatliche Zurückhaltung – globalen Trends und Zwängen des Marktes standhält, ist zumindest fraglich.
Gerade in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften zeigt sich zudem ein tiefer Interessenkonflikt zwischen Hochschulen und wissenschaftlichem Fortschritt. Denn es gibt Wahrheiten, die Gesellschaften nur ungern über sich selbst hören wollen: dass ihre politische Stabilität auf der Externalisierung ökologischer und sozialer Kosten beruht; dass ihr materieller Wohlstand langfristig nicht haltbar ist; dass ihr innerer Frieden unter anderem auf der Abwertung von Minderheiten basiert. Wer diese unbequemen Wahrheiten erforschen will, braucht den Rückhalt der akademischen Infrastruktur. Isoliert lassen sich solche Fragen nicht bearbeiten.
Doch eine Hochschule, die sich als Dienstleisterin von Drittmittelgebern, Politik und Gesellschaft versteht, hat wenig Anreiz, sich mit diesen Kräften anzulegen. Wer Wissenschaftsfreiheit ausschließlich als Autonomie der Hochschulen versteht, unterschlägt die strukturelle Verflechtung zwischen Universität und Gesellschaft. Und wer diese Autonomie ausgerechnet in der Personalpolitik verteidigt – durch die Verhinderung unbefristeter Stellen –, schwächt gerade jene, die sich gegen die Echokammer des Wissenschaftsbetriebs stemmen: Forscher*innen, die unbequeme Fragen stellen, die in drei Jahren Projektlaufzeit schlicht nicht zu bearbeiten sind.
Deshalb stellt sich die Frage, ob die Freiheit der Wissenschaft nicht anders – und umfassender – gedacht werden muss als bloß in negativer Form: nämlich als Abwesenheit von staatlichen Eingriffen. In der jetzigen Lage ist wohl davon auszugehen, dass es selbst dann keine besseren Perspektiven für wissenschaftliches Personal geben dürfte, wenn sich die politischen Mehrheitsverhältnisse im Bund völlig ändern würden. Denn auch dann würde eine Neuregelung mit mehr Arbeitsplatzsicherheit noch gegen ein verengtes Verständnis von Wissenschaftsfreiheit verstoßen.
Es braucht deshalb eine gesellschaftliche Debatte über die Rolle von Wissen, über seine Produktion, Aneignung und Verwertung – öffentlich wie privat. Ohne diese Diskussion wird die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dazu führen, dass kritische Forschungszweige und kostenintensive Ausbildungswege es immer schwerer haben werden.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1192680.hochschulpolitik-freiheit-zur-prekarisierung.html