nd-aktuell.de / 17.07.2025 / Berlin

Massenentlassung bei Tiktok: In Konkurrenz zu einer KI

Chinesischer Konzern Tiktok streicht 150 Stellen in Berlin, Verdi bereitet Streik vor

Christian Lelek
»Wir trainierten eure Maschinen. Zahlt uns, was wir verdienen«, steht auf dem Banner der Tiktok-Beschäftigten.
»Wir trainierten eure Maschinen. Zahlt uns, was wir verdienen«, steht auf dem Banner der Tiktok-Beschäftigten.

Es sind etwa 60 von insgesamt 400 Beschäftigten, die in der Berliner Niederlassung von Tiktok Germany arbeiten und sich bei Nieselregen am Spreeufer eingefunden haben. Das Management des Konzerns hat der Gewerkschaft Verdi zufolge angekündigt, mehr als 150 von ihnen entlassen zu wollen[1]. Daraufhin begannen die Beschäftigten, sich bei Verdi zu organisieren. Anhand ihres Protests und des damit verbundenen Hinweises auf das, was sich bei Tiktok gegenwärtig im Kleinen vollzieht, werden größere Umbrüche in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt sichtbar.

Die Gründe des Unternehmens für die Massenentlassung bleiben unbekannt. Eine nd-Anfrage ließ Tiktok bis Redaktionsschluss unbeantwortet. Gewerkschaftssekretärin Kathlen Eggerling spricht von »Kostensenkungsplänen«, die »allein der Profitmaximierung« dienen würden. Der weltweite Umsatz des chinesischen Mutterkonzerns belief sich im vergangenen Jahr auf 23,1 Milliarden US-Dollar. Der Gewinn von Tiktok Germany lag 2023 bei 5,9 Millionen Euro – 40 Prozent mehr als 2022.

»Wir sind 150 Menschen, die dem Unternehmen insgesamt mehr als 500 Arbeitsjahre gegeben haben«, sagt ein Mitarbeiter mit schwarzer Verdi-Kappe vor seinen Kolleg*innen. »Und jetzt werden wir und unsere Familien der Ungewissheit überlassen.«

Die große Mehrheit der Gekündigten sind Mitarbeiter*innen der Trust-and-Safety-Abteilung. Sie kontrollieren und moderieren die Videoinhalte, beurteilen, ob sich sexualisierte oder gewaltvolle Clips im Rahmen des Zulässigen bewegen oder gesperrt werden müssen. »Stellen Sie sich vor, sie müssen sich Kriegsverbrechen anschauen und entscheiden, ob diese veröffentlicht werden können oder nicht – den ganzen Tag«, sagt eine Mitarbeiterin während der Kundgebung. Im vergangenen Jahr hatte der Tiktok-Betriebsrat im Interview mit »nd«[2] erklärt, dass die mentale Gesundheit »einer der wichtigsten Punkte für die meisten Kolleg*innen« sei.

»Wir haben die KI trainiert, die unser Leben zerstört.«

Tiktok-Mitarbeiter

Laut Verdi soll die Moderation der Inhalte künftig verstärkt von einer künstlichen Intelligenz erledigt werden. »Wir haben die KI trainiert, die unser Leben zerstört«, sagt der Mitarbeiter mit der schwarzen Verdi-Kappe, »also gebt uns, was uns zusteht.« Bevor Programme mit künstlicher Intelligenz menschliche Arbeitskraft in Gänze oder zum Teil ersetzen, werden sie häufig von ihren menschlichen Vorgängern trainiert, also mit Inhalten gefüttert, auf deren Grundlage sie später selbst Prozesse ausführen sollen.

Zur Kundgebung sind auch einige Berlin-Politiker der Grünen, der Linken und der SPD gekommen. In Grußworten unterstreichen sie die gesellschaftliche Dimension des Vorgangs. »Eure Arbeit ist ein Beitrag zur Demokratie«, sagt etwa Werner Graf, Ko-Fraktionschef der Grünen. »Ihr wart immer der Garant, dass sich der Hass nicht komplett ausbreitet. Ihr habt das Netz auf Fakten trainiert. Das kann die KI nicht[3]«, sagt Graf.

Laut Verdi-Sekretärin Eggerling verhandelt Tiktok mit dem Betriebsrat über einen Sozialplan. Das ist vom Gesetz her vorgeschrieben. Gesprächen zu einem Sozialtarifvertrag mit der Gewerkschaft habe sich das Unternehmen allerdings bisher verweigert. Verdi fordert die Verlängerung der Kündigungsfrist auf ein Jahr und eine Abfindung in Höhe von drei Jahresgehältern, damit sich die Gekündigten umorientieren können und nicht Gefahr laufen, ihren Aufenthaltsstatus zu verlieren. Bei einem Teil der internationalen Belegschaft sei der Aufenthalt an ein Arbeitsverhältnis geknüpft, teilt Verdi in einer Presseerklärung mit.

Bis kommenden Dienstag läuft die gewährte Frist. »Wir werden nicht danebenstehen. Wir werden uns als Gewerkschafter*innen zu verstehen geben. Und wenn sie sich nicht treffen wollen, werden wir die Situation eskalieren«, sagt erneut der junge Mann mit der schwarzen Kappe. Das schließe den Streik als mögliches Mittel ein[4].

Dass Verdi diesem reinen Abwehrkampf so große Bedeutung beimisst, mag wohl an der für die Gewerkschaften so bedeutenden Branche[5] liegen, die gemeinhin als nur schwer organisierbar gilt. Bislang galt in der jungen Tech-Szene eher die Regel, dass unzufriedene Mitarbeiter*innen zum nächsten Betrieb wechseln. Doch offenbar sehen die betroffenen Beschäftigten kaum eine Perspektive und wandten sich in ihrer Not an die Gewerkschaft. Ein Gewerkschaftserfolg bei Tiktok könnte schnell die Runde machen.

Dass menschliche Arbeitsplätze durch Maschinen ersetzt werden, ist kein neues Phänomen. In der Vergangenheit ging es dabei in erster Linie um Prozesse, die mit physischer Arbeit im Zusammenhang standen: So können in der industriellen Fertigung heutzutage »bereits deutlich mehr als 70 Prozent der Tätigkeiten von Computern oder computergesteuerten Maschinen übernommen werden«. Zu diesem Schluss kommt eine Untersuchung des deutschen Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).

Mit dem Boom von künstlicher Intelligenz (KI) steht in der näheren Zukunft womöglich eine ganze Palette an Jobs zur Disposition, die im Wesentlichen geistige Prozesse umfassen. Hierzu zählen in erster Linie textbasierte Tätigkeiten: Schreiben, Zusammenfassen, Übersetzen.[6] In einer im vergangenen Jahr veröffentlichten Studie kam eine britische Denkfabrik, das Institute for Public Policy Research (IPPR), zu dem Ergebnis, dass in Großbritannien im weitreichendsten Szenario 7,9 Millionen Arbeitsplätze verloren gehen könnten.

Gegenwärtig seien elf Prozent aller Tätigkeiten bedroht. Vor allem kognitive Routineaufgaben könnten durch generative KI übernommen werden, die Texte, Softwarecode und Daten sowohl lesen als auch erstellen können. In einer zweiten Welle, der tiefergehenden Integration von KI in die Arbeitsabläufe der Unternehmen, seien dann auch weniger routinebasierte kognitive Aufgaben wie das Erstellen und Verwalten von Datenbanken gefährdet, und damit bis zu 59 Prozent aller Tätigkeiten der britischen Wirtschaft.

Von einer möglichen KI-Substitution seien vor allem Frauen, junge Menschen und mittlere und niedrige Einkommen betroffen, da sie häufig die Einsteiger-, Teilzeit- und Verwaltungsjobs besetzen. Den Autoren der Studie zufolge befindet sich die Entwicklung an einem »sliding doors moment« (Schiebetürmoment)[7], der zu großen Einschnitten auf dem Arbeitsmarkt, aber auch zu Lohnzugewinnen bis zu 30 Prozent bei den Beschäftigten und einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts führen könne, ohne dass in der Summe Arbeitsplätze verloren gehen müssten. Entscheidend sei, dass die Regierung, Arbeitgeber und Gewerkschaften ihr Handeln auf den Erhalt von Arbeitsplätzen ausrichten und gleichzeitig neue automatisierungssichere Jobs entstehen. Wenn die durch KI zusätzlich anfallenden Unternehmensgewinne verteilt würden, bestünde gar die Chance, damit den Arbeitskräftemangel in sozialen und medizinischen Bereichen zu decken.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191583.arbeitszeit-angetreten-zum-dienst-am-wachstum.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1185259.new-economy-betriebsrat-bei-tiktok-dinge-zu-veraendern-braucht-zeit.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188981.kuenstliche-intelligenz-deepseek-sicherheitsbedenken-und-standortpolitik.html
  4. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1192563.lieferdienste-laengster-ausstand-bei-lieferando.html
  5. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188210.gewerkschaften-ig-metall-in-berlin-schluesselbranche-digitalwirtschaft.html
  6. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189949.fehlerhafte-ki-zuversichtlich-falsch.html
  7. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1192398.kuenstliche-intelligenz-weniger-arbeit-durch-ki-n-eigentlich-eine-gute-sache.html