Gibt es in Kuba Bettler? Für Marta Elena Feitó, Ministerin für Arbeit und Soziale Sicherheit, ist die Sache glasklar: Während einer parlamentarischen Anhörung am vergangenen Montag, die im Fernsehen übertragen wurde, leugnete sie die Existenz: »Wir haben Menschen gesehen, offenbar Bettler. Wenn man sich ihre Hände und ihre Kleidung anschaut, sind sie als Bettler verkleidet, aber sie sind keine Bettler. In Kuba gibt es keine Bettler«, sagte Feitó während einer Sitzung, in der staatliche Maßnahmen zum Schutz vulnerabler Bevölkerungsgruppen vorgestellt werden sollten.
»Wenn es Leute gibt, die auf der Straße Windschutzscheiben putzen (..), dann haben sie sich ein einfaches Leben gesucht, an der Ampel, bittend, putzend, und was sie mit dem Geld dann vielleicht machen, ist trinken«, so die Ministerin weiter. Feitó kritisierte auch die mittellosen Menschen, die gezwungen sind, im Müll zu wühlen. »Diese Menschen gewinnen Rohstoffe zurück, und was sie sind, sie sind illegal selbstständig«, sagte sie.
Daraufhin explodierte in den sozialen Netzwerken der aufgestaute Unmut. Viele Nutzer*innen verwiesen auf die weit verbreitete Armut und sichtbare Obdachlosigkeit nach Jahren wirtschaftlichen Niedergangs[1] und kritisierten die Realitätsferne der Regierung. »Leute, manchmal frage ich mich, ob die Machthaber meines Landes einmal aus ihren Häusern herauskommen«, schrieb eine Nutzerin. »Man muss nur drei Blocks in Centro Habana laufen und sieht pensionierte Lehrer, Arbeiter und Ex-Kombattanten der Revolution ohne jegliche Unterstützung.«
Das gehörte noch zu den im Ton harmlosen Kommentaren. »In dem Ausschuss, in dem die Ministerin gesprochen hat, hat niemand ihren Beitrag infrage gestellt«, gab ein anderer User zu bedenken. Auch die dort Anwesenden hätten Kritik verdient. Hunderte Nutzerinnen und Nutzer teilten in den sozialen Netzwerken kritische Kommentare und Fotos, um die auf den Straßen sichtbare Armut zu unterstreichen.
Kuba steckt seit Jahren in einer tiefen Wirtschafts-, Versorgungs- und Energiekrise, die sich durch den Einbruch des Tourismus[2] infolge der Covid-19-Pandemie, verschärfte US-Sanktionen[3] und eigene Ineffizienzen weiter zuspitzt. Die staatliche Grundversorgung an Lebensmitteln und anderen Gütern des täglichen Bedarfs ist auf ein Minimum zusammengeschmolzen. Stundenlange tägliche Stromabschaltungen gehören selbst in der Hauptstadt Havanna seit Monaten zum Alltag.
»Wenn es Leute gibt, die auf der Straße Windschutzscheiben putzen (..), dann haben sie sich ein einfaches Leben gesucht.«
Marta Elena Feitó Kubanische Arbeitsministerin
Nach Angaben des umstrittenen Kubanischen Observatoriums für Menschenrechte leben 89 Prozent der kubanischen Familien in extremer Armut. Diese Zahlen mögen stark übertrieben sein, aber der wirtschaftliche Zusammenbruch Kubas[4] hat eine sichtbare Armut geschaffen. Ältere Menschen, die nur von ihrer staatlichen Rente von umgerechnet weniger als fünf US-Dollar pro Monat leben, sind besonders betroffen.
Kubas Präsident Miguel Díaz-Canel Bermúdez wies seine Ministerin am Dienstagmorgen in einem Post auf der Plattform X zurecht: »Sehr fragwürdiger Mangel an Sensibilität im Umgang mit Vulnerabilität. Die Revolution kann niemanden zurücklassen, das ist unser Motto, unsere kämpferische Verantwortung«, schrieb er.
Später, während einer Rede im Parlament, legte er nach. »Diese Menschen, die wir manchmal als Bettler bezeichnen oder mit dem Betteln in Verbindung bringen, sind in Wirklichkeit ein konkreter Ausdruck der sozialen Ungleichheiten und der aufgestauten Probleme, mit denen wir konfrontiert sind[5]. Ich sage dies, weil ich einige der im Ausschuss geäußerten Ansichten zu diesem Thema nicht teile.« Man könne nicht diejenigen verunglimpfen, die direkt von Armut betroffen sind, so der Präsident weiter. »Ein solches Vorgehen zeugt von Unkenntnis der Realität des Landes. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass es eine oberflächliche Herangehensweise und einen fehlgeleiteten Fokus auf die Komplexität des Phänomens widerspiegelt.«
Kurz darauf reichte Feitó ihren Rücktritt ein[6]. In einer offiziellen Mitteilung, die in den Abendnachrichten des staatlichen Fernsehens verlesen wurde, erklärte die kubanische Regierung, die Ministerin sei zurückgetreten, nachdem sie »ihre Fehler« eingesehen habe. Einen weiteren Tag später – am Mittwoch – folgte im Parlament die Ankündigung über eine Anhebung der Pensionen und eine Verdopplung der Mindestrente von bisher 1528 kubanischen Pesos.
Zur Einordnung: Ein 30er Karton Eier kostet im privaten Einzelhandel um die 2800 Pesos. Ministerpräsident Manuel Marrero Cruz erklärte, dass es sich aufgrund finanzieller Zwänge bei der Anhebung zwar nicht um eine umfassende Reform handele, aber damit ein erster Schritt zur Unterstützung der am schlechtesten gestellten Rentner getan sei.