In den Baumkronen vor dem Heilbronner Hallenbad sitzen zwei Menschen in selbstgebauten Schaukeln. Zwischen zwei Platanen haben sie ein Seil gespannt, von dem Banner mit dem Lidl-Logo herunterhängen. Auf einem steht: »Lidl lohnt sich. Aber für wen?« Und ein Bundestagsabgeordneter, der kopfüber von einem Kletterseil hängt, sagt: »Überreichtum wie der von Dieter Schwarz ist ein Problem.« Der Lidl-Gründer und -Besitzer möchte das Soneo-Bad in der Stadtmitte abreißen, um seinen Bildungscampus zu erweitern. Die Bäume sollen gefällt, die öffentliche Grünfläche versiegelt und privatisiert werden.
Das Bündnis »Unser Lidl« nahm das am Wochenende zum Anlass für Aktionstage gegen die Konzentration von Macht bei Superreichen. Die Menschen, die sich beteiligten, veranstalteten eine Podiumsdiskussion, entrollten Banner an öffentlichen Gebäuden und Plätzen, starteten Straßenumfragen bei Heilbronner*innen. Und natürlich gehörte die erwähnte symbolische Baumbesetzung zum Programm. Mit einem laut aktuellen Schätzungen vom 8. Juli mit einem Vermögen von mittlerweile fast 50 Milliarden Euro gilt Schwarz als reichster Mensch Deutschlands. Er wohnt in Neckarsulm, direkt neben Heilbronn. Dort befindet sich auch die Zentrale seiner Schwarz-Gruppe, zu der neben 12 200 Lidl-Märkten auch 1450 Kaufland-Filialen gehören.
»Dieter Schwarz-Stadt« wie Tobi Rosswog, einer der Organisatoren der Aktionstage, Heilbronn nennt, werde massiv von dem Unternehmer beeinflusst. Rosswog redet schnell, hat immer ein Lächeln im Gesicht und träumt davon, die Schwarz-Gruppe zu kollektivieren. Warum der Fokus auf Schwarz? »Natürlich ist Dieter nicht besonders böse und Lidl nicht besonders grausam im Vergleich zu Aldi und Co. Die Struktur des Kapitalismus ist das Problem, und das müssen wir auch so benennen«, sagt Rosswog. Man müsse Kritik aber konkret werden lassen. In Heilbronn werde sichtbar, welche Probleme extremer Reichtum einzelner verursache. Auf eine Presseanfrage des »nd« antwortete die Schwarz-Gruppe bis Redaktionsschluss nicht, Schwarz selbst gilt als extrem öffentlichkeitsscheu.
Ein Schwimmbad abzureißen und Bäume zu fällen – angesichts des Klimawandels »Irrsinn«, findet Marcel Bauer. Der gelernte Forstwirt sitzt seit März für Die Linke im Bundestag. Jetzt hält er, noch immer kopfüber am Kletterseil hängend, eine Rede: »Milliardäre eignen sich nicht nur den Mehrwert unserer Arbeit an, sondern auch unsere Städte.« Schwarz ordne am Gemeinderat und der Bevölkerung vorbei eine Neuordnung der Innenstadt an. Diese diene nur seinen Interessen und werde von seiner Stiftung koordiniert. Stattdessen sollte die Stadtentwicklung in der Hand der Bürger*innen liegen, findet der 33-Jährige.
»Grundsätzlich sollte es keine Milliardäre geben«, findet der Politiker aus Karlsruhe. Die Vermögenssteuer, die seine Partei fordert, sei ein wirksames Instrument, um die Superreichen angemessen an der Finanzierung des Gemeinwesens zu beteiligen.
Ein Mann mit E-Bike ist stehengeblieben, um die Baumbesetzung zu beobachten. Ganz überzeugt ist er nicht vom Gesagten. »Manchmal ist Fluch und Segen dicht beieinander«, sagt er. Schwarz habe Heilbronn vorangebracht. Aber wenn man das Hallenbad abreiße, dann habe er den Eindruck, dass das »hier ausartet«. »Der Schwarz« entscheide, was in der Stadt passiere, sagt er und resümiert: »Das Geld bestimmt immer.«
Rosswog, der das hört, kommt sofort angesprungen: »Genau, und deswegen müssen wir das ändern und uns den Reichtum zurückholen!« Der Mann meint daraufhin: »Dann müsste doch jeder, der erfolgreich ist und ein Weltunternehmen schafft, Angst haben, enteignet zu werden.« Dann fährt er schon wieder los. »Ja, aber wir sind es doch, die hier enteignet werden!«, ruft Rosswog ihm hinterher. Er lebt selbst ohne Bankkonto und festen Wohnsitz.
Nach Angaben des Bündnisses sollen in den nächsten Jahren mehr als 20 000 neue Beschäftigte und Studierende in die etwa 132 000 Einwohner zählende Stadt ziehen. Das wäre eine hohe Belastung für den ohnehin angespannten Wohnungsmarkt. Es könnte also zu noch mehr Verdrängung von Menschen mit geringem und mittlerem Einkommen kommen.
Rosswog, der sich mit Kunstaktionen und politischen Kampagnen für eine sozial-ökologische Transformation einsetzt, kann das nicht fassen: »Es kann nicht sein, dass eine Person allein entscheidet, wie eine Stadt gestaltet wird. Das müssen wir gemeinsam tun, alle Heilbronner*innen müssen gemeinsam darüber entscheiden, was hier wie gemacht wird«, sagt der 34-Jährige. Es solle nicht für die Profite von einigen Wenigen produziert und gebaut werden, findet Rosswog und plädiert für »Lösungen jenseits von Markt und Staat.«
Bei der Erweiterung des Bildungscampus handelt es sich um ein Prestige-Projekt zur Förderung von KI-Technologien. Schwarz holt mit Stiftungsprofessuren Wissenschaftler*innen der ETH Zürich nach Heilbronn, die TU München ist derzeit mit 13 Professuren in Heilbronn vertreten. Schon 2017 kritisierte Hochschulwatch den Einfluss, den Schwarz sich damit an der Münchner Uni erkaufe. Normal seien ein oder zwei Stiftungsprofessuren an einem Institut, aber gleich 20 seitens eines einzigen Akteurs seien ein Dammbruch und ein schlechtes Zeichen für die Wissenschaftsfreiheit, so die Organisation.
Angesichts dieser Machtfülle ist wohl noch viel zu tun, bevor der Traum von »Unser Lidl« Wirklichkeit werden kann. Im Wissen um die Überzeugungsarbeit, die sie leisten müssen, haben sich die Aktivist*innen schon am Morgen vor der Baumbesetzung mit Klemmbrettern und Umfragebögen vor dem Rathaus Heilbronns postiert. Eine von ihnen ist Gisela Schulz. Die gelernte Einzelhandelskauffrau kennt den Arbeitsdruck, unter denen Kassiererinnen und Auflader stehen. Die Personaldecke sei häufig zu dünn, zudem werde fortwährend die Leistung der Beschäftigten überwacht. Schulz fordert mehr Mitbestimmung für die Mitarbeiter*innen in den Lidl-Filialen.
Das Vermögen von Schwarz sei aufgrund von Krisengewinnen während der Corona-Pandemie noch einmal besonders drastisch angewachsen. Laut der internationalen Milliardärsliste des Wirtschaftsmagazins »Forbes« stieg es allein von 2020 bis 2022 um 27,3 Milliarden US-Dollar.
Auf dem Marktplatz herrscht reges Treiben. Ein Passant findet, Dieter Schwarz schaffe doch Arbeitsplätze und seine Aktivitäten würden hohes Innovationspotenzial bergen. Gisela Scholz dringt bei ihm mit ihren Argumenten nicht durch. Dagegen trifft sie bei Sybille Weltin offene Ohren. Weltin hat eine Einkaufstüte in der Hand. Es ist Wochenmarkt, und von den Ständen her duftet es nach Käse und frischem Obst. Die Frau im pinken Sommerkleid und mit Prada-Sonnenbrille antwortet auf die Frage nach Enteignungen: »Es klingt sehr radikal, aber wenn der Mensch nicht freiwillig gibt und alles nimmt, dann muss er ein Stück weit enteignet werden.« Schwäbelnd redet sie sich in Rage: »Wer hat denn keine zwei Tage nach Beginn des Ukraine-Kriegs die Preise hochgeschraubt? Das ist doch gemacht. 100 Prozent!«
Viele Menschen zweifeln an der Erklärung, dass die Preissteigerungen bei den Supermarktketten nur an der Inflation liegen würden. Sie werfen den Handelsketten, die den Lebensmittelmarkt beherrschen, Preiswucher vor. Darum weiß auch das Bündnis, weswegen sie ihren Protest nach der Aktion am Marktplatz zu einer Kaufland-Filiale in der Innenstadt tragen. Mit Bannern und in Lidl-Kleidern laufen sie durch Heilbronn. Manche Menschen rümpfen darüber die Nase, von anderen gibt es zustimmendes Kopfnicken.
»Natürlich ist Dieter Schwarz nicht besonders böse und Lidl nicht besonders grausam. Die Struktur des Kapitalismus ist das Problem, und das müssen wir auch so benennen.«
Tobi Rosswog Bündnis Unser Lidl
Das Bündnis macht auf die Macht der Discounter und die von ihnen verursachte sinkende Kaufkraft bei einer Mehrheit aufmerksam. Am Samstag wird ein Essensstand vor dem Kaufland-Markt aufgebaut und im Rahmen dieser »Küche für alle«-Aktion das Gespräch über das »unfaire System der Supermärkte« gesucht.
Während die Umsätze der großen Lebensmittelhändler in Deutschland in den zehn Jahren vor der Corona-Pandemie jährlich um etwa drei Prozent stiegen, betrug der Zuwachs allein im Jahr 2020 mehr als 13 Prozent. Produkte wie Kleider, Schreibwaren und Technik, die man in den pandemiebedingt geschlossenen Geschäften nicht mehr kaufen konnte, waren im systemrelevanten Lebensmittelhandel weiterhin erhältlich. Teilweise gab es sogar Verkaufsaktionen, in denen unübliche Produkte ins Supermarktsortiment genommen wurden. Das war nicht nur unfairer Wettbewerb, sondern ein Krisengewinn, von dem der Staat nie etwas abschöpfte.
Das Grundstück vor dem Kaufland ist riesig, für Parkplätze ist alles zubetoniert. Inmitten des Asphaltgraus verteilen die Aktivist*innen einen blau-gelben Protest-Prospekt. In perfektem Lidl-Design ist auf dem Cover zu lesen: »Bauernbrot für den Aufstand.« Das Essen, das sie verteilen, ist aus weggeworfenen Waren zubereitet, die sie aus den Containern geholt haben. Das Konzept Küche für alle, hoffen die Aktivist*innen, könnte darauf aufmerksam machen, dass kostenfreie und gemeinsam organisierte Ernährung und ein demokratisierter Einzelhandel möglich wären.
Drinnen im Supermarkt warten die Menschen in der Schlange zwischen Tabak, Süßigkeiten und Zeitschriften an den Kassen. Wie viele von ihnen haben wohl während des Einkaufs jeden Cent nachgerechnet, werden von Existenzangst geplagt? Verglichen mit den Werten von 2020 sind Lebensmittel laut Verbraucherpreisindex des Statistischen Bundesamtes heute um 36 Prozent teurer. Die Ernährungsarmut in Deutschland steigt, überdurchschnittlich betroffen sind Haushalte mit geringem Einkommen: Alleinerziehende, Rentner*innen, Geflüchtete, Studierende und Bürgergeldbeziehende.
»Die Entscheidung darüber, was produziert wird, wie und zu welchem Zweck, muss in die Hände derjenigen gelegt werden, die tagtäglich mit Lebensmitteln arbeiten«, heißt es in dem blau-gelben, auf den ersten Blick täuschend echt wirkenden »Lidl«-Prospekt. Hierfür beruft sich das Bündnis auf Artikel 15 des Grundgesetzes, nach dem Enteignungen im Sinne des Gemeinwohls zulässig sind. Das wollen die Aktivist*innen auf Lidl anwenden. Aber nicht als Selbstzweck, sondern als Fundament für einen demokratisch organisierten Lebensmitteleinzelhandel, der nicht einzelnen Millardären gehört.