nd-aktuell.de / 24.07.2025 / Politik

Kulturkampf gegen den Marxismus

Der Begriff Kulturmarxismus dient der globalen Rechten zur Mobilisierung gegen progressive Politik und die angebliche liberale Diktatur

Anton Schmidt
Regenbogen-Regime im Reichstag? Das Eintreten für progressive Politik gilt manchen als Beleg einer Herrschaft des Kulturmarxismus.
Regenbogen-Regime im Reichstag? Das Eintreten für progressive Politik gilt manchen als Beleg einer Herrschaft des Kulturmarxismus.

Am 22. Juli 2011 erschütterten zwei Anschläge Norwegen und die Welt. Erst legte ein rechter Attentäter eine Bombe im Osloer Regierungsviertel, bei dem acht Menschen getötet wurden. Danach erschoss er auf der Insel Utøya 69 vor allem jugendliche Teilnehmer*innen eines Sommercamps der sozialdemokratischen Arbeiderpartiet. Die Opfer waren nicht beliebig – Ziel waren explizit Linke und Sozialist*innen. In seinem Manifest schrieb der Täter damals, er kämpfe gegen den »Kulturmarxismus«, der Europa von innen heraus zerstören würde. Ein solches Motiv hat sich seitdem enorm popularisiert und findet sich im Denken und in den Taten der heutigen Rechten. Aber was für eine Ideologie verbirgt sich eigentlich hinter dem Begriff des Kulturmarxismus?

Antisemitische Projektion

Die seit den 1990ern vor allem in den USA kultivierte Verschwörungstheorie des »cultural marxism« geht davon aus, dass sich der klassische Marxismus nach seinem Scheitern im Westen und dem Zusammenbruch im Osten von der Idee einer proletarischen Revolution abgewandt habe und nun vor allem auf einen kulturellen Einfluss ziele. Dabei gehe es um die Zerstörung der »westlichen Kultur«, also konkret: die Auflösung von Nationalstaaten, die Förderung ethnischer und kultureller »Durchmischung«, die Zerschlagung traditioneller Geschlechterrollen, von Ehe und Familie sowie die Schwächung von Religion, Meinungsfreiheit und nationaler Souveränität. Die Feindbilder bleiben dabei diffus – Multikulturalismus, Feminismus, Islam, politische Korrektheit etc. erscheinen als Einzelteile eines umfassenden kulturmarxistischen Projekts, um den Westen zu zerstören.

Damit schließt dieses Narrativ unmittelbar an die Erzählung vom »jüdischen Bolschewismus« an, die in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus verbreitet war. Das Konzept Kulturmarxismus aktualisiert diese antisemitische Vorstellung für die Zeit nach dem Kalten Krieg: »Die Juden« erscheinen nun nicht mehr als Strippenzieher des Kommunismus, stattdessen hätten jüdische Marxisten die westliche Kultur infiltriert und würden sie heimlich lenken. Dazu hätten sie ein totalitäres System errichtet, gegen das es sich zu wehren gelte. Damals wie heute geht es um den vermeintlichen Einfluss dieser »Marxisten« auf Religion, Nation, Familie, Sexualität, Erziehung, Kultur oder Wissenschaft. Ähnliche Vorstellungen finden sich heute in zahlreichen Varianten in der alten wie neuen Rechten, sei es im Phantasma des »großen Austauschs« oder dem drohenden »Volkstod«, im Mythos eines dem Untergang geweihten Abendlandes oder in der Vorstellung vom Kampf gegen eine als übermächtig und hinterlistig imaginierte linke Elite.

Wahrheitskämpfer im Scheinaufstand

Die Idee eines angeblich vorherrschenden Kulturmarxismus ist aber nicht nur in den USA anzutreffen. Auch hierzulande werden auf rechten Blogs zivilgesellschaftliche Initiativen wie die Omas gegen Rechts als »kulturmarxistische Schein-Großmütter« betitelt und der Kulturmarxismus als politisches Kampfmittel gegen die vermeintlich unterdrückte Opposition von rechts dargestellt. In der »Wirtschaftswoche« warnt der Ökonom Antony Mueller wiederholt vor der kulturellen Macht des Marxismus in seiner heutigen Gestalt: »Wer sich gegen den Kulturmarxismus wendet, hat es schwer. Die ideologische Hegemonie hat den Marxisten die Deutungshoheit über das Sagbare verschafft. Wer aus dem engen Korridor der politischen Korrektheit ausbricht, wird als Rechter oder Reaktionär verunglimpft und im schlimmsten Fall sozial vernichtet.«

Ähnlich sieht es auch der ehemalige Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz Hans-Georg Maaßen. Dieser verkündete auf »X«: »Nicht ›die Deutschen‹ wollen sich abschaffen. Es ist das linke politische Establishment, geprägt vom Kulturmarxismus und unterstützt durch die Agitation und Propaganda des Haltungsjournalismus, das Deutschland abschaffen will.« Auch bei der AfD ist der Begriff kein Fremdwort. Der damalige AfD-Bundestagsabgeordnete Thomas Ehrhorn sprach im Parlament von einem »kulturmarxistischen Angriff« auf die Familie, der Abgeordnete Martin Renner verurteilte Geschlechtergerechtigkeit und Diversität als »von Kulturmarxismus aufgeblasener ungeistiger Popanz unserer Zeit«, und Alice Weidel bezeichnete in einem Gastbeitrag für die extrem rechte Wochenzeitung »Junge Freiheit« »Früh- und Hypersexualisierung, Genderismus und Multikulturalismus« als Früchte des Kulturmarxismus.

»Kulturmarxismus« dient als Projektionsfläche für Vorstellungen von kultureller Homogenität und gesellschaftlicher Hierarchie.

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Der Kulturwissenschaftler Diedrich Diederichsen argumentierte schon in den 90er Jahren im Hinblick auf die damals aufkeimende Debatte um »politische Korrektheit«, dass mit diesem Vorwurf Herrschaftsansprüche und der Status quo verteidigt werden sollten. Das Argument gegen die Political Correctness, so beschreibt er, lautete damals, dass sich die Linke nach 1990 daran gemacht habe, »ihre ewigen Gleichheitsphantasmen nach dem Ende des Sozialismus nun auf ›Rassen‹- und Geschlechterunterschiede« zu projizieren.

Solche Deutungsmuster griffen gezielt soziale Ängste auf, um sie politisch zu kanalisieren. Damit waren sie gerade für jene Bevölkerungsteile attraktiv, die gegen Ende des Jahrhunderts und im Siegeszug des Neoliberalismus um den Verlust von Identifizierungen wie Heimat, Familie oder Nation bangten. Die Rechte kann diese Erfahrungen aufgreifen und kämpft seitdem aus ihrer Sicht gegen einen drohenden symbolischen und materiellen Statusverlust und um die Bewahrung ihres Weltbildes, um Lebensstile, Privilegien und Machtverhältnisse. Indem sie dabei die Linke als Teil einer globalen Elite zeichnet, die über kulturelle Deutungshoheit verfüge, kann sie sich zudem als rebellisch »gegen die da oben« gerieren.

Der Vorwurf, dass die Linken mit ihren Gleichheits- und Freiheitsforderungen die Zerstörung von Ehe, Familie oder Nation herbeiführen, ist alt. Bereits das »Kommunistische Manifest« von Marx und Engels aus dem Jahre 1848 beginnt mit der Schilderung jener reaktionären Allianz, die das »Gespenst des Kommunismus« für jene gesellschaftlichen Zersetzungen geißelt. Angesichts der feministischen und antirassistischen Erfolge sowie der allgemeinen Pluralisierung der Lebensformen in den letzten Jahrzehnten finden sich derartige konservative Kritiken auch im gegenwärtigen rechten Backlash – und liefern damit eine Erklärung, wieso in rechten Kulturkämpfen heute die alten antikommunistischen Feindbilder überdauern. Der Kulturmarxismus erscheint als erfolgreiches Projekt einer angeblich übermächtigen Linken und als heimlicher Sieg der Ideologie des politischen Feindes. Dieser Anspielung bediente sich auch etwa Jörg Meuthen auf dem Bundesparteitag der AfD 2016, als er gegen das »links-rot-grün verseuchte 68er-Deutschland« wetterte.

Mehr als nur Worte

Die Verschwörungstheorie vom Kulturmarxismus ist mittlerweile in vielen Staaten rund um die Welt zu finden und fungiert als ideologische Klammer der globalen Rechten. »Kulturmarxismus« dient als Projektionsfläche für Vorstellungen von kultureller Homogenität und gesellschaftlicher Hierarchie. Wahrgenommene Bedrohungen von Lebensstil, Identität und Machtpositionen werden beschworen, um gesellschaftliche Ungleichheiten zu leugnen und jede Kritik daran zu delegitimieren. Meist dienen dabei Schlagwörter wie »wokeness« oder »politische Korrektheit« als Ersatzbegriffe. Sie zeichnen das Bild einer bedrohten Gesellschaft, projizieren Konflikte auf innere oder äußere Feinde und enthalten antisemitische, rassistische und nationalistische Elemente. Gesellschaftliche Veränderungen werden als gefährliche Umerziehung abgelehnt. Somit ist der rechte Kulturkampf Ausdruck einer gesellschaftlichen Regression, die jede Perspektive auf Emanzipation, oder auch nur auf kleine Verbesserungen, aktiv sabotiert und als Feind identifiziert.

Die Anschläge von Oslo und Utøya wirken heute, während rechte Bewegungen überall auf der Welt erstarken und rechter Terror zahlreiche Nachahmer findet, erschreckend präsent. Das Datum des rassistischen Anschlages von München 2016 fiel nicht zufällig auf den fünften Jahrestag der norwegischen Anschläge. Die Rechte befindet sich nicht nur vielerorts im Aufstieg, sondern kann dabei auch mit genau jenen kulturkämpferischen Positionen punkten, die sich im Manifest des norwegischen Attentäters in oft nur leicht überspitzter Form wiederfinden.

Besorgniserregend ist dabei, dass sich zentrale Begriffe und Denkmuster rechter Verschwörungsideologie auch in anderen Debatten wiederfinden. Denn auch in dem, was hierzulande als politische Mitte gilt, wird seit Jahren gegen »wokeness« oder links-grüne Meinungsdiktatur gewettert, erlassen Landesregierungen Verbote gegen gendersensible Sprache. Wenn der Kabarettist Dieter Nuhr von einer »kleinen, machtvollen Elite« spricht, die »versucht zu steuern«, oder die ehemalige Familienministerin Kristina Schröder über eine »Minderheit« redet, die im »Besitz der kulturellen Produktionsmittel« sei, dann gilt es, ganz genau hinzuschauen, welche Agenda hier verfolgt, welche sozialen Errungenschaften wieder zurückgedrängt werden sollen. Denn die Anschläge von Oslo und Utøya zeigen auch: Der Rechten geht es nicht nur um Worte.