nd-aktuell.de / 24.07.2025 / Reise

Regensburgs geheime Streetart-Route

Zwischen Dom und Donau versteckt sich überraschend viel urbane Kunst – auch vom »bayerischen Banksy«

Alexa Christ
Überragend: Andre Meiers Werk an der Fassade eines fünfstöckigen Hotels
Überragend: Andre Meiers Werk an der Fassade eines fünfstöckigen Hotels

Ein fliegender Fisch steuert einen farbenfrohen Zeppelin und hebt dabei die Schädeldecke seines Erfinders an. Daneben schwebt eine Schreibmaschine durch die Luft und enthüllt ein Innenleben aus Zahnrädern. Es ist eine bunte Fantasiewelt, die die Außenwände der »Palletti-Bar« inmitten der Regensburger Pustetpassage ziert. Zwischen Stockrosen und historischen Türmen mutet der Anblick ein wenig bizarr an. Wann nur hat Regensburg beschlossen, Flächen der streng geschützten Altstadt für moderne Streetart freizugeben?

Andre Meiers Antwort verblüfft. »Im 13. und 14. Jahrhundert!«, erklärt der gebürtige Belarusse mit kaum merklichem Lächeln. Es ist die spitzfindige Art des Künstlers, mit der er deutlich macht, dass es im Mittelalter durchaus üblich war, die gotischen Hausfronten kunstvoll zu bemalen. Erst sehr viel später wurden Barockfassaden daraufgesetzt. Meier ist »Mural Artist«. In seiner weißrussischen Heimat Witebsk, der Geburtsstadt von Marc Chagall, hat er fünf Jahre Kunst studiert, ehe er als Spätaussiedler 2010 nach Regensburg kam. Und sich in die verträumten Sträßchen zwischen Dom und Steinerner Brücke schockverliebte. Was für ein Quell künstlerischer Inspiration!

Höhenangst und Ritterrüstung

Schnell fasste Meier den Entschluss, das ach so schöne Regensburg noch weiter aufzuhübschen. Seit 2012 gestaltet er großflächige Murals – nicht in vermummten nächtlichen Sprayer-Aktionen, sondern ganz legal mit Acrylfarbe, Pinsel und Roller im Auftrag der Stadt oder von Privatkunden. »Wenn ich ein Baugerüst mit TÜV-Genehmigung für meine Arbeit brauche, ist es schwer, das illegal zu machen«, bemerkt der 41-jähringe Künstler.

Auf besagtem Gerüst musste Meier zu seinem Leidwesen feststellen, dass er unter Höhenangst leidet. Sein bislang bedeutendstes und größtes Kunstwerk hat er deshalb nur mit einer gehörigen Portion Überwindung fertigstellen können. Es befindet sich im Innenhof des Hotels »Münchner Hof«. Eine schöne Dame in mittelalterlicher Ritterrüstung und mit Schoßhund im Arm erstreckt sich über ganze fünf Stockwerke. Die Frau symbolisiert die Stadt Regensburg, der Hund die Bürger. Für Hotelchefin Kathrin Fuchshuber eine tolle Allegorie: »Der Hund beißt und bellt, aber die Frau hält ihn trotzdem sicher und geborgen. Das finde ich gut!«

Vielfalt der Motive

Knapp 20 öffentliche Kunstwerke hat Andre Meier bislang in Regensburg geschaffen – bunte Mexiko-Impressionen im Restaurant »Guacamole«, Zootiere in Dirndl, Lederhose und Karohemd in der Udetstraße oder Regensburger Sehenswürdigkeiten im Eingangsbereich des Kreativzentrums Degginger. Sein Stil ist ein eklektischer Mix aus akademischer Kunst, barocken Elementen, Jugendstil, dekorativer und japanischer Kunst. »Heute müssen wir schauen, dass die neue Mural-Art zur Stadt passt. Sie muss ruhig sein, nicht zu bewegt; sie muss die Wände, die Farben von Regensburg respektieren. Dann ergibt sich am Schluss ein harmonisches Ganzes«, sagt Meier, der am liebsten gar nicht über seine Kunst reden will – sie soll für sich sprechen.

Wenn er durch die stets gut frequentierten Gassen seiner neuen Heimat schlendert, vorbei an beliebten Touristen-Hotspots wie der historischen Wurstbraterei »Wurstkuchl«, oder den Sonnenuntergang am Donauufer genießt, dann sind Skizzenblock und Stift stets griffbereit. Die Fassade des Jahnstadions, in dem der SSV Regensburg derzeit in der 3. Liga kickt, würde Meier nur zu gern einmal bemalen. Ob dann ein bayerischer Löwe im rot-weißen Jahn-Trikot aufläuft? Vielleicht. Derweil muss er neben Neuaufträgen auch immer wieder bestehende Murals ausbessern. »Streetart hält etwa fünf bis zehn Jahre«, verrät der Künstler. Die Witterung nagt am Kunstwerk – Sonne, Feuchtigkeit, Schimmel. Die Farbe verblasst.

Besonders fragil sind die Kunstwerke des als »bayerischer Banksy« bekannt gewordenen Künstlers Gato-M. Der gebürtige Madrilene, der ähnlich wie sein Vorbild Banksy verdeckt arbeitet und seine Anonymität wahrt, lebte bis 2021 in Regensburg. Anders als der studierte Andre Meier ist Gato-M Autodidakt. Seine oftmals gesellschaftskritische Kunst ist quasi »tapeziert«. Die zu Hause per Hand gemalten Bilder wurden von ihm eingerollt und in mitternächtlichen Guerilla-Aktionen rasch an Hauswände geklebt. Am nächsten Morgen konnten sich die Regensburger dann über einen neuen Gato-M freuen – etwa über den Zeitungsjungen, der die Schlagzeile »Liebe das Leben« unter dem Arm trägt, oder das kleine Mädchen mit dem Schild, auf dem zu lesen ist: »Change the system, not the climate.«

Viele Werke des Spaniers sind mittlerweile verschwunden – doch eins der meistfotografierten Wandbilder im öffentlichen Raum, das von ihm stammt, ist immer noch zu bewundern. Es befindet sich gleich neben dem Schaulager der Galerie Erdel, einem romanischen Bau aus dem 13. Jahrhundert unweit des historischen Fischmarkts. Ein Junge pustet bunte Seifenblasen in die Luft, die ein auf einem Ast sitzender Rabe mit dem Schnabel zerplatzen lässt.

Reichlich Farbe im Einsatz: Künstler Andre Meier
Reichlich Farbe im Einsatz: Künstler Andre Meier

Auf Facebook berichtet der Künstler, der sein Gesicht dabei mit einem Palästinensertuch verdeckt, wie ihm einmal bei einer nächtlichen Klebe-Aktion eine Polizeistreife begegnete. Die Beamten hätten sehr höflich nach seinem Ausweis gefragt und ihn dann seine Arbeit fortsetzen lassen. »Seine Kunstwerke werden von der Stadt toleriert«, bestätigt Carolyn Molski von Regensburg-Tourismus. »Man hat ihn sogar zu Ausstellungen und Vorträgen eingeladen.«

Porträts für die Ewigkeit

Mit ausdrücklicher Billigung der Stadt agiert hingegen Oleg Kuzenko. Nicht weit vom Schloss Thurn und Taxis entfernt entstand vor ein paar Jahren das Parkhaus Petersweg, an dessen benachbarter Betonmauer der ursprünglich aus der Ukraine stammende Künstler sofort das Potenzial für ein einmaliges Projekt erkannte. Seine Vision: die bedeutendsten Personen der Stadtgeschichte in einer Porträtgalerie darzustellen. So sind in den vergangenen zehn Jahren rund 130 Gesichter entstanden, beginnend bei Kaiser Marc Aurel, der im Jahr 121 n. Chr. das Legionslager Castra Regina gründete.

»Die ersten 30 Persönlichkeiten habe ich selbst festgelegt, danach bekam ich professionelle Hilfe«, erzählt Kuzenko, dessen Porträts mal in barocker Anmutung, mal in sachlich-nüchternem Stil daherkommen. Eines haben sie jedoch alle gemeinsam: Knallbunt sind sie. Den Regensburgern scheint’s zu gefallen. Kuzenko erzählt gern, wie ihn die Arbeit inmitten der Altstadt in direkten Kontakt zu den Betrachtern seiner Bilder bringt. Erst vor Kurzem habe eine Frau zu ihm gesagt: »Wie schön, dass es hier nun so lebendig ist.«

Comic-Charme und Bistroflair

Ein lebendiger Hingucker ist auch der Kunstturm im Innenhof des Restaurants »Orphée«, das seit knapp 50 Jahren originalen französischen Bistro-Charme versprüht und in Regensburg Kultstatus besitzt. Nirgends sei das süße Nichtstun angenehmer, schwärmte etwa Wim Wenders. Der niederbayerische Künstler Günther Kempf kam 2019 dennoch zum Arbeiten. Den zwölf Meter hohen Aufzugsturm im idyllischen Innenhof sollte er gestalten. Kempf, der sich von gegenständlicher Malerei, Comics, naiver sowie Renaissance-Malerei inspirieren lässt, legte los. Im Plakatstil überzog er die hell getünchte Wand, und so wandern die Blicke der speisenden Gäste von Crêpes und Coq au Vin immer wieder zu Donald Duck, zu einer japanischen Geisha, zu Popeye mit tätowiertem Arm, zu Asterix und Kleopatra, Vincent van Gogh oder Tim und Struppi.

In der benachbarten spanischen Bodega, die sich mit dem »Orphée« den Hof teilt, blickt dagegen Pablo Picasso auf einem überlebensgroßen Porträt von der Wand. Und so staunt der Gast über diese doch recht kleine, ja auch etwas provinzielle süddeutsche Stadt, die bereits große Namen der Streetart hervorgebracht hat – einen Emanuel Jesse etwa, der heute in Wien für internationale Kunden arbeitet, oder einen Peter Phobia, der mittlerweile in New York Kunstpreise einsammelt.

Ist Regensburg also das Eldorado der Graffiti-Art? Nicht ganz. Mit Argusaugen wacht der Denkmalschutz über das historische Antlitz der Unesco-Welterbe-Stadt. Die Meiers, Gato-Ms, Kempfs, Kuzenkos und Co dürfen daher nur Passagen und Innenhöfe gestalten. Wie gut, dass Regensburg insgesamt 50 solcher Innenhöfe besitzt. Platz zum kreativen Austoben ist genug vorhanden!