Auf dem Vorplatz der Paulskirche ist ein Parcours aufgebaut. Zwischen Infotafeln und Absperrbändern ist das Kopfsteinpflaster mit einer rosafarbenen Plane bedeckt. Die Markierung für einen Wettbewerb, in dem es nicht um Schnelligkeit geht, sondern um Beherrschung. Die Hitze liegt tief über der Frankfurter Innenstadt an diesem Nachmittag. Reisegruppen zieht es vom nahegelegenen Römerberg in die Einkaufsstraßen. Einige bleiben vor der Paulskirche stehen und informieren sich über die Nationalversammlung von 1848[1], das erste Parlament für ganz Deutschland, das an diesem Ort getagt hatte. Doch sie blicken auch, zum Teil mit Verwunderung, auf die rosafarbene Markierung.
Zwei Frauen besteigen dort Fahrräder. Sie stehen mit gebeugten Knien auf den Pedalen und bewegen sich langsam voran. Es geht schräg nach links, nach rechts, die Blicke fest auf dem Vorderrad. Sie bremsen, balancieren, reißen den Lenker hin und her, und doch müssen sie sich weiter nach vorn bewegen, um nicht umzukippen. So geht das eine Weile, denn beim Langsam-Radfahren werden die Letzten die Ersten sein.
Am Rand des Parcours stehen die Künstlerin Katja Kämmerer und der Theatermacher Jan Deck. Beide haben 2007 das Ensemble »Profikollektion« gegründet. Darin setzen sie sich auf künstlerische Weise mit gesellschaftlichen und historischen Themen auseinander. Nun, vor der Paulskirche, erinnern sie mit einem Festival an die erste Arbeiterolympiade[2], die im Juli 1925 in Frankfurt am Main stattfand, vor genau 100 Jahren.
»Es ging damals nicht um ›Höher, Schneller, Weiter‹«, sagt Deck. »Es ging um internationale Solidarität und ein starkes Zeichen gegen Nationalismus.« Die Arbeiterbewegung wollte sich von der Rekordhatz der Olympischen Spiele abgrenzen, auch mit dem »Langsam-Radfahren«. 1925 gewann übrigens der Deutsche Valentin Stieber diesen Wettbewerb. Für die 100 Meter lange Strecke benötigte er 14:22 Minuten.
Die meisten Interessierten, die vor der Paulskirche an den Infotafeln stehen bleiben oder sich den Flyer anschauen, haben von der Arbeiterolympiade noch nie etwas gehört. »Wir möchten diese Wissenslücke schließen«, sagt Katja Kämmerer. »Der Zuspruch damals war riesig. Und natürlich ging es dabei auch um die politischen Themen und Konflikte jener Zeit.« In Frankfurt gibt es heute fast keine sichtbaren Spuren mehr, die an die Arbeiterolympiade erinnern. Aber Kämmerer und Deck haben einen Audiorundgang mit elf Stationen mitgestaltet. So kann man durch die Stadt spazieren und sich in die Zeit von vor 100 Jahren zurückversetzen lassen.
Damals, im Juli 1925, nahmen mehr als 3000 Sportlerinnen und Sportler aus zwölf Ländern an der Arbeiterolympiade teil. Bei der Eröffnungsfeier im neu gebauten Waldstadion verzichteten sie auf Landesflaggen und Nationalhymnen. Stattdessen erklang die »Internationale«. Im Jahr zuvor, bei den Olympischen Spielen in Paris, hatte noch kein Team aus Deutschland teilnehmen dürfen, zu frisch waren die Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg[3]. Doch nun, in Frankfurt, riefen Athleten aus Deutschland und Frankreich, die sich vor ein paar Jahren noch beschossen hatten, gemeinsam: »Nie wieder Krieg!«
Ein Halt auf dem Audiorundgang von Jan Deck und Katja Kämmerer führt an den Main und erinnert an den Festumzug, der während der Arbeiterolympiade stattfand. Rund 100 000 Menschen zogen durch Frankfurt, schwenkten Fahnen und verteilten Plakate. »Die Arbeitersportler wollten eine neue Körperkultur entwickeln«, sagt der Sportjournalist Martin Krauß. »Sie verknüpften körperliche und geistige Erziehung für ihre politischen Ziele.« Krauß hat die Teilhabe-Kämpfe der Sportgeschichte in einem Buch aufgearbeitet, der Titel: »Dabei sein wäre alles«. Darin beschreibt er auch die Fortführung des Klassenkampfes[4] mit sportlichen Mitteln. »In Frankfurt wollte die Arbeiterbewegung ihre Stärke demonstrieren«, sagt er. »Nicht nur mit Sport, sondern auch mit Kulturveranstaltungen und Choreografien.«
Die Arbeiterolympiade wurde von gymnastischen Übungen mit Tausenden Teilnehmenden begleitet. Im Stadion fanden Schachspiele mit »lebenden Figuren« statt. Der jüdische Schriftsteller Alfred Auerbach inszenierte mit mehreren Chören das Theaterstück »Kampf und die Erde« als Protest gegen Großmachtstreben und den Raubbau von Bodenschätzen. Friedrich Adler, Generalsekretär der Sozialistischen Internationalen, empfand die Spiele als »mächtiger als alles, was der Arbeiterklasse bislang gelungen ist«. Rund 450 000 Menschen besuchten die fünftägige Arbeiterolympiade.
Eine solche Entwicklung war im späten 19. Jahrhundert kaum vorstellbar gewesen. Die Arbeiter hatten zu wenig Freizeit für Wettkampfsport. Und wenn doch, dann konnten sie sich die teuren Mitgliedsbeiträge und Sportbekleidungen für bürgerliche Vereine nur selten leisten. Erst durch die Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 wurde es für Arbeiter möglich, Vereine und Verbände zu gründen. Auch im Sport. Doch weiterhin wurde der Arbeitersport im Kaiserreich eng überwacht. Die Justiz betrachtete sozialistische Sportvereine als politische Organisationen. Die Polizei überwachte Wettkämpfe und Versammlungen – und löste diese mitunter gewaltsam auf. Die Repression ging erst zurück, als das Kaiserreich kollabierte.
Nach der Einführung des Achtstundentages[5] 1918 wuchs der Arbeitersport. Es entstanden Hunderte Vereine für Fußball, Turnen oder Wandern. Viele von ihnen forderten eine »Flucht in die Natur«. Sie errichteten Sportplätze oder funktionierten Kneipenräume in Sporthallen um. Der Arbeiter-Turnverlag in Leipzig etablierte einen Versandhandel für Kleidung, Sportgeräte und Vereinsutensilien. 1930 zählte die Dachorganisation, der Arbeiter-Turn- und Sportbund (ATSB), rund 1,2 Millionen Mitglieder.
Doch die Entwicklung des Arbeitersports wurde von etlichen Konflikten begleitet. Und es gibt wohl nur wenige, die sich damit so gut auskennen wie der Frankfurter Stadthistoriker Dieter Wesp. »Es wurde lange darüber diskutiert, wer eigentlich an der Arbeiterolympiade teilnehmen durfte«, sagt Wesp. »Denn die Spaltung der Arbeiterbewegung setzte sich im Sport fort.«
In der Weimarer Republik stritten Sozialdemokraten und Kommunisten erbittert über die Auslegung des Sozialismus[6]. Als Präsident des Arbeiter-Turn- und Sportbundes setzte sich der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Cornelius Gellert für einen reformerischen Kurs ein. Nach internen Spannungen schloss der ATSB 1928 revolutionäre KPD-Anhänger aus. Die Kommunisten gründeten ihren eigenen Sportverband und planten als Konkurrenz zur Arbeiterolympiade eine Spartakiade in Berlin. Doch der sozialdemokratische Polizeipräsident von Berlin untersagte die Veranstaltung.
Dieter Wesp hat im Mai in Frankfurt einen Vortrag über die Arbeiterolympiade gehalten. Auf dem Einladungsflyer war das Plakatmotiv der Spiele von 1925 abgebildet: Ein Sportler in kurzer Hose steht mit einer roten Fahne auf zerstörten Waffen und Soldatenhelmen. Zu erkennen ist auch eine zerrissene Hakenkreuz-Fahne. »Schon 1925 haben sich Arbeitersportler gegen die Nationalsozialisten gestellt«, erklärt Wesp und erinnert an ihre späteren Proteste und Streiks vor der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler.
Nach der Machtübernahme 1933 wurden die Vereine der Arbeitersportler zerschlagen und ihr Besitz beschlagnahmt. Viele Mitglieder wollten das Verbot umgehen und wählten für ihre Gruppen Namen, die weniger »verdächtig« klangen. Andere schlossen sich dem Widerstand an, wie eine Wanderausstellung herausarbeitet, die seit 2018 durch Deutschland tourt. Der Titel: »Der andere Fußball«. Die Ausstellung, die im Sommer 2024 auch im Münzenberg-Forum in Berlin zu Gast war, in dem Gebäude, in dem die Redaktion des »nd« ihren Sitz hat, erinnert zum Beispiel an August Postler[7]. Der Arbeiterfußballer beteiligte sich noch 1933 an der Verbreitung der Zeitung »Roter Nordsport«. Die Gestapo nahm Postler fest. Im März 1934 starb er in Haft, vermutlich an den Folgen der Misshandlung.
Biografien wie diese spielen in der Geschichtsschreibung des deutschen Sports keine große Rolle. Und auch außerhalb von Deutschland ist wenig bekannt, dass der Boom der Arbeiterolympiade nur kurz war. Die zweite Auflage der Spiele fand 1931 in Wien statt. Die dritte war für 1936 in Barcelona geplant, doch der Beginn des spanischen Bürgerkrieges führte zur Absage. Die letzte Arbeiterolympiade ging 1937 in Antwerpen über die Bühne. Und nach dem Krieg blieb der Arbeitersport, wenn überhaupt, eine Nische.
Wenn die Künstlerin Katja Kämmerer und der Theatermacher Jan Deck über die Arbeiterolympiade sprechen, dann denken sie an die Bedrohung durch Faschisten, an die Ausbeutung von Arbeitskräften oder an Wohnungsknappheit, alles Themen, die auch die Gegenwart prägen. Doch sie möchten auf ihrem Festival in Frankfurt auch den Fortschritt in den Blickpunkt rücken.
Bei Olympia 1924 in Paris durften nur wenige Sportlerinnen an den Start gehen. Vor allem die Leichtathletik und das Turnen lehnten die Aufnahme von Frauen ab. Ganz anders war es bei der Arbeiterolympiade in Frankfurt ein Jahr später, wo Frauen selbstverständlich mitwirken konnten, auch an der Organisation. 100 Jahre später ist das im deutschen Sport noch immer nicht überall selbstverständlich.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1192921.arbeiterolympiade-gegen-den-olympischen-nationalismus.html