Also das hat in Deutschland vier Jahre lang regiert! Also das hat vier Jahre lang den Ton angegeben und kommandiert und unterdrückt und gemaßregelt und Weltpolitik gemacht! Also das waren die Heroen eines Volkes, das in ihnen sich selbst verehrte! Also das waren sie! Das? Du lieber Gott.
Am achtzehnten November 1919, vormittags um ein Viertel elf Uhr, treten Hindenburg und Ludendorff in den braunen, wenig feierlichen Saal. Der Alte im Gehrock, der viereckige Kopf hat etwas Mongolenhaftes, aber Figur, Schnurrbart und Backenknochen – ein Nationalheld, wie man sie auf Weißbiergläser malt. Ludendorff, hölzern-steif, sehr aufgebracht und sehr unsicher, im schwarzen Jackettanzug; um die Nasenflügel ein böser Zug … Ein Wachtmeister in Zivil und ein höherer Verwaltungsbeamter. Sie setzen sich.
Die Vernehmung beginnt. Eine Vernehmung, wie sie in keiner Privatbeleidigungsklage vor dem Amtsgericht Berlin-Mitte möglich wäre: Die Zeugen denken gar nicht daran, die ihnen gestellten Fragen zu beantworten, sie lesen aus fertig vorliegenden Schriftstücken unentwegt vor, was sie vorzulesen sich vorgenommen haben, sie gehen nur auf das ein, was ihnen bequem ist. Es bestehe keine Aussagepflicht, sagen sie. Und der Ausschuss kuscht.
Eine Welt steht auf. Welch eine Welt! Wenn Bethmann sagt: »Qui tacet consentire videtur«, so fühle ich: Schulpforta, Philosophie, Universität. Und wenn ich das auch alles nicht wüsste, so empfände ich doch: Das ist einer von den Unseren, das ist einer, der irgendwie etwas mit Geist zu tun hat, mag er schwach, mag er nachgiebig, mag er unselbständig gewesen sein – er ist doch schließlich ein Mann unserer Welt. Aber diese beiden da?
Es ist die größte Enttäuschung meines Lebens gewesen. Sie waren beide schlechtweg nicht vorhanden. Keine Persönlichkeiten, keine Köpfe – nichts. Zwei alte, grau gewordene Kadetten.
Hindenburg menschlich durchaus der Größere von beiden. Dem Manne schlägt ein Herz in der Brust; wenn er barsch einherpoltert, so fühlt er irgendetwas – es sind nicht unsere Empfindungen, aber er fühlt, sein Blut strömt. Der andere eiskalt. Nicht jener grauenhafte Typ glatt rasierter Etappenoffiziere, wie sie da in Zivil massenhaft umherstehen – aber von derselben Gefühlskälte wie sie, von derselben unerschütterlichen, unfassbaren, sich selbst unbewussten Rohheit.
Das Weltbild, das sich da entrollt, ist erschütternd. Nichts von Erfahrung, nichts von Menschenkenntnis, nichts von Goethe oder Dostojewski. Die dachten mit dem Bizeps und schrieben mit den Fäusten. Wenn Ludendorff sagt, er und Bernstorff hätten verschiedene Weltanschauungen, so ist das nicht richtig. Sie haben zusammen nur eine. Und die hat Bernstorff.
Der General wehrt sich gegen die fernsten Dinge. Man habe ihm vorgeworfen, dass er auf vierundneunzig Fotografien nie gelächelt habe – nun, er habe vor lauter Verantwortung nicht lächeln können. Ach, wir glauben ihm die Schwere dieser Verantwortung gern – aber er hätte sie nicht nur fühlen, er hätte sich auch von ihr leiten lassen sollen. Lächeln hätte er können.
Sprach Ludendorff, so atmete der Zuschauerraum: Ja! Und die Offiziersfrauen, die da saßen, fühlten: Unser Reich soll wiederkommen! Unser Reich, in dem wir glücklich gewesen sind und von Einfluss, in dem wir mehr Nahrungsmittel hatten als die anderen, in dem unsere Gatten und Freunde befehlen konnten, ohne selbst gehorchen zu müssen, dass es ihnen wehtat – unser Reich! Unser Reich! Darum ging es, und das war die Frage.
Zwei Welten stoßen aufeinander. Aber die eine, die alte, die schlechtere, macht einen erbarmungswürdigen, einen entwaffnenden Eindruck. Wie es die Journalisten rechts fertig bekommen werden, diesen Augenblick welthistorisch »aufzumachen« – es muss eine harte Arbeit sein.
Vier Jahre lang haben sich diese da jede Einmischung in ihre Tätigkeit mit dem Hinweis auf die große Verantwortlichkeit verbeten. Nun ist sie da, die Möglichkeit, sich zu verantworten – nun haltet Stange! Und nun kneifen sie. Man fasst sie auch nicht. Haben Sie, General Ludendorff, die Berichte, die gegen den U-Boot-Krieg sprachen und die von guten Fachleuten abgefasst waren, so sorgfältig gelesen wie die, die für ihn sprachen – ja oder nein? Waren Ihnen die einzelnen Stadien der Wilson-Aktion bekannt – ja oder nein? Haben Sie stichhaltige Gründe gehabt, anzunehmen, man könne England wirklich auf die Knie zwingen – ja oder nein?
Und Ludendorff liest und liest. Und ein Ausschuss wartet auf Antwort.
»Ich hatte nur mit dem Reichskanzler zu verhandeln – die Äußerungen des Grafen Bernstorff waren für mich nicht dienstlich«, sagt der General. Das ist mein Deutschland.
Der sinnlose Trieb, um der Arbeit, nicht um des Zweckes willen zu arbeiten, um der Organisation willen zu organisieren, lähmte schließlich die Kräfte aller. Man sah ja nichts. Die Frage nach einem Grund war Ketzerei – alles wurde eingeteilt. Der Deutsche kann sein Bestes nur geben, wenn er diktatorisch gestellt ist. Ersprießliches korporatives Arbeiten ist ihm fast unmöglich – er bleibt dann augenblicks im Apparat stecken, in Geschäftsordnungsdebatten, in Formen, in sich selbst. Selbst wenn Ludendorff ein ganzer Kerl gewesen wäre, hätte er sich nicht in diesem Haufen wirrer Knäule durchsetzen können. Er wäre hängen geblieben. Ein entarteter Militarismus hat jede freie Arbeitskraft aus den Deutschen herausgeprügelt.
Ressortpatriotismus und Instanzenzug – hier sind sie in Reinkultur. Die vollkommene Unfähigkeit dieser Gehirne, zu begreifen, dass es nicht auf die Akten, sondern ausschließlich und lediglich auf den Erfolg ankommt, ausschließlich darauf, alles, einfach alles zu erfassen, auch wenn es nicht von der vorgesetzten Dienststelle herrührt – sie entwaffnet einen. Quid dicam, quod? Sie haben’s nicht besser gelernt.
Die Verlesungen nehmen ihren Fortgang. Der Alte liest Seins vor, rauh, ungefüge, unlogisch und von einem erstaunlich mäßigen Niveau. Die Luft im Saale wird erdrückend – es gibt eine Pause, in der der Ausschuss berät.
Helden? Helden? Was haben diese beiden da mit dem Heldenbegriff zu schaffen? Der Landser war ein Held, und der arme Kompanieführer war einer, der im Dreck stak und seine Leute herausriß, und der Vizefeldwebel draußen war einer und der Mann am Schiffsrohr. Aber diese da? Verwaltungsbeamte, gut genährt, stets außer Gefahr und stets – wie Ludendorff im November Achtzehn – auf dem Sprung, auszureißen. Auch hier Hindenburg, der weiter seine Pflicht tat und sich erst da zu einer gewissen Größe aufschwang, wertvoller als der andere.
Aber schlägt nicht das Herz des Volkes für die beiden? Nun, des ganzen Volkes nicht. Aber wie erkenne ich meine Deutschen wieder? Sie sind doch sonst nicht so ritterlich, so zartfühlend, so unendlich taktvoll – und das bei zwei Erfolglosen? Hier spricht nicht das Gehirn – hier spricht nur das Herz.
Und hätten diese beiden einen scheußlichen Totschlag begangen: Eine halbe Nation stünde auf und nähme sich ihrer an. Sie lieben in diesen Männern nicht die Personen: Sie lieben die Repräsentanten eines geliebten Systems, das jedem das Seine gab und jedem die Möglichkeit, auf dem anderen herumzutreten. Das ist derselbe Grund, der den Kaiser in öffentlichen Diskussionen fast tabu macht, nicht das menschliche Mitleid und nicht Großmut.
Das sind die Führer gewesen, das die Verderber. Die gigantische Gefahr, die im Militarismus steckt, ist heute noch nicht ganz erkannt. Das gesamte Bürgertum hält ihn für eine Tugend, bedauert nur, dass dieser Krieg verloren gegangen ist, und greift allenfalls diese beiden an. Falsch. Sie waren die besten Vertreter des schlechtesten Systems. Und als ich die beiden hier sitzen sah, fern aller Geistigkeit, fern von alledem, was wir als wertvoll anzusehen gewohnt sind, begriff ich wieder und stärker als je: Der Militarismus ist eine Geistesverfassung. Oder vielmehr: das Geistesmanko.
Die Sitzung wird geschlossen. Eine primitive, dickköpfige Obstruktion der Heroen setzt ein. Der Ausschuss kuscht. Und vertagt sich auf unbestimmte Zeit. Man hört Ludendorffs scharfe, abgehackte Stimme schelten. Unter brausendem Hurra des Spalierpöbels verlassen die Herren das Lokal. Man muss einen Krieg verloren haben, um so gefeiert zu werden.