In Ihrem Buch »Neon/Grau« nähern Sie sich der sogenannten Wendezeit mittels der Analyse popkultureller Produktionen. Was verrät uns die Popkultur über Geschichte, was in anderen Quellen womöglich verborgen bleibt?
Anna Lux: Popkultur erzählt andere Geschichten. Sie fokussiert sich auf Figuren, die so nicht gelebt haben, die aber den Geist einer bestimmten Zeit widerspiegeln. Und über diese Figuren gelingt im besten Falle dann ein Zugang zur Alltagswelt, zu Erfahrungswelten und Emotionen. Das ist etwas, was in historischen Quellen schwer zu fassen ist – vielleicht weil dabei die richtige Sprache fehlt.
Jonas Brückner: Ich habe auch den Eindruck, dass popkulturelle Werke oft ein bisschen früher dran sind, bestimmte Themen oder Stimmungen aufzugreifen. Im Zuge der sogenannten Wiedervereinigung kann man etwa sehen, dass die Unzufriedenheit der damaligen Zeit sehr früh im Punk thematisiert wurde. Und dadurch, dass bestimmte Themen in einer Geschichte verdichtet werden, wird auch eine andere Form der Zugänglichkeit kreiert.
Der popkulturelle Schwerpunkt des Buches hat Ihnen den Raum eröffnet, Perspektiven, die bisher unterrepräsentiert waren, stärker ins Zentrum zu rücken. Welche waren das?
JB: Grundsätzlich war unser Anspruch schon, alle oder zumindest möglichst viele Perspektiven zu beleuchten und in Bezug zueinander zu setzen. Wir arbeiten bereits eine ganze Weile daran, die Vielfalt der Perspektiven aufzuzeigen, und man muss dabei aufpassen, nicht einer Betriebsblindheit oder der Reproduktion der Einheitserfolgsgeschichte zu verfallen. Unterrepräsentiert schienen uns vor allem die Spät- und Neugeborenen, die die DDR nur noch als kleine Kinder erlebt haben. Aber auch von Rassismus betroffene Menschen sowie die Frage danach, wie das Thema in der ostdeutschen Mehrheitsgesellschaft verhandelt wurde.
AL: Ein neuer Blick scheint mir zudem das Kapitel über Geschlechterverhältnisse zu sein, an dem du gearbeitet hast, Jonas. Aber auch die Beleuchtung des Lebens im ländlichen Raum ist lange vernachlässigt worden, ebenso wie Verlusterfahrungen. Damit verbunden sind nicht nur etwa Themen wie Arbeitslosigkeit, sondern auch der Verlust des Vertrauten, des als normal Verstandenen innerhalb kürzester Zeit.
Gab es in der Vergangenheit ein Buch oder einen Song, der Ihren Blick auf die Umbrüche 1989 wesentlich geprägt oder verändert hat?
JB: Mir fällt spontan Ronald M. Schernikau ein. Er hat sich als schwuler Kommunist aus dem Westen hingestellt und die DDR verteidigt – ein damals wie heute unerhörtes Verhalten! Er hatte einen anderen Blick auf den Staat und einen eher essayistischen Stil. Musikalisch fällt mir spontan der Song »Scheiß DDR« von der Band Pisse aus dem Jahr 2015 ein, der in etwa anderthalb Minuten mit der Revolutionsmär aufräumt. Also damit, dass 1989 plötzlich alle auf die Straße gegangen sind und Widerstand geleistet hätten. Zugleich werden das Konsumversprechen des Westens und das europäische Grenzregime gegeißelt und auf mir sehr sympathisch rotzige Weise wird konkludiert: Irgendwie finden wir das alles nicht gut.
AL: Ich bin ja ein paar Jahre älter als Jonas und habe den Zugang zum Themenkomplex vor allem über die Literatur erhalten. Zu nennen wäre hier vor allem das Buch »Als wir träumten« von Clemens Meyer, das in Leipzig spielt. Es ist zwar in erster Linie eine Geschichte über Jungs und Männer und daher nicht wirklich meine, aber als ich es gelesen habe, dachte ich: Genau solche Typen kannte ich damals. Und ihr Scheitern habe ich miterlebt.
Entstanden ist die Idee zu Ihrem Buch im Zuge Ihrer Zusammenarbeit im Forschungsprojekt »Das umstrittene Erbe von 1989«. Inwiefern ist das Erbe von 1989 denn gegenwärtig umstritten?
AL: Wir haben den Antrag für das Projekt 2017 geschrieben – und damit vor dem Hintergrund einer erstarkenden AfD, Pegida-Demos, »Wir sind das Volk«-Rufen und der Vereinnahmung der Montagsdemos. All das fußte in gewisser Weise auf einer Erinnerungskultur, die die Umbrüche als charismatisches Ereignis stilisierte, bei dem das Volk auf die Straße gegangen ist und sich quasi aus dem Nichts von einem repressiven Staat befreit hat. Und diese verkürzte Perspektive wurde Mitte der 2010er Jahre dann vor allem in rechten Narrativen als Blaupause für die Gegenwart herangezogen.
In den vergangenen fünf bis zehn Jahren hat der Diskurs über die Einheit und die damit einhergehenden sozialen Verwerfungen wieder neu Fahrt aufgenommen. Gab oder gibt es etwas, das Ihnen im bisherigen Diskurs gefehlt hat oder unterrepräsentiert schien und für die Arbeit des Buches insofern prägend war?
JB: Ich denke dahingehend vor allem erst mal an Stilfragen. Wir hatten den Anspruch, die ganz großen, zugespitzten Vereindeutigungen zu vermeiden. Zudem hat mich interessiert, die Folgen des autoritären Staatssozialismus zu beleuchten, ohne dabei mit dem üblichen antikommunistischen Dampfhammer zu hantieren oder links mit rechts hufeisentheoretisch in einen Topf zu werfen. Ich habe neulich bei Max Czollek gelesen – und das fand ich sehr einleuchtend –, dass man den DDR-Antifaschismus ernst nehmen muss, wenn man sein Scheitern verstehen will. Das zu beleuchten, finde ich wichtig, weil es nur so gelingt, autoritären Tendenzen im linken Spektrum entgegenzutreten.
AL: Was mir oftmals zu kurz kommt im Diskurs, ist das Dialogische. Ich habe den Eindruck, dass das Sprechen über 1989 und das Ende der DDR oft in geschlossenen Kommunikationsräumen stattfindet – auch, aber nicht nur in Bezug auf Intergenerationalität. Deshalb hat mir auch der Podcast »Mensch, Mutta« von Katharina Thoms, auf den wir uns auch im Buch beziehen, so gut gefallen. Denn er durchbricht die oft bestehende Sprachlosigkeit zwischen jenen, die die Umbruchphase als Kind erlebt haben, und ihrer Elterngeneration.
Im Einheitsdiskurs dominieren gegenwärtig wütende Zuspitzungen, Polemiken, Freund-Feind-Markierungen und Identitätspolitiken. Wie erklären Sie sich das?
AL: Ich denke, eine große Rolle spielt dabei das dominierende Narrativ, dem zufolge die DDR durch die große Freiheitsbewegung von 1989 abgelöst wurde. Diese Perspektive ist nicht falsch, aber verkürzt, da sie Verlusterfahrungen, Enttäuschungen und sozialen Abstieg zumeist ausblendet. Die Freiheits- und Erfolgserzählung hat im Laufe der Jahre starke Gegenerzählungen evoziert und provoziert. Die mündeten dann in der Behauptung einer ostdeutschen Identität, in der es um Prägungen geht, um die Frage »Wo komme ich her?« und die mit kulturellen Codes verbunden ist, zum Beispiel dem bewussten und zelebrierten Konsum von Rotkäppchen-Sekt. Parallel hat sich aus der Reibung zwischen Freiheits- und Gegenerzählung eine ostdeutsche Widerstandserzählung entwickelt. Diese behauptet, der Osten sei überlegen, weil authentischer und krisenerprobter. Die AfD hat das aufgenommen, befeuert und politisch radikalisiert. Die Selbstermächtigungsexzesse haben verschiedene Gründe, aber auch den, wie jahrzehntelang über die DDR und 1989/90 gesprochen wurde.
JB: Spannend finde ich dahingehend vor allem Werke der Millenial-Generation, wo die Umbruchphase ein Aspekt unter vielen ist. Zu nennen wäre etwa der Roman »Weltalltage« von Paula Fürstenberg, die darin ostdeutsche Erfahrungsräume mit Klassenerfahrungen verbindet, was mitunter eh zusammenhängt, aber nicht immer das Gleiche ist.
Sie sind beide ostsozialisiert. Was war die Nachwendezeit für Sie persönlich: mehr neon oder mehr grau?
JB: Ich bin Jahrgang 1989, insofern habe ich in den 90er Jahren in einer bunten Kinderwelt gelebt, auch wenn manche Umgebung tatsächlich grau war. Ich war in dieser Zeit oft mit meiner Schwester in Magdeburg bei unseren Großeltern, wo wir in irgendwelchen Industrieruinen gespielt haben. Ein bisschen wie die Älteren, die dort nachts Partys gefeiert haben.
AL: Auch in meinem Fall hat Neon klar überwogen, das schillernde, pulsierende. Grau war ja das Vertraute, das Bekannte. Ich habe meine Kindheit viel in irgendwelchen Abrisshäusern und auf Brachen verbracht. Als dann dort plötzlich riesige Parks mit Gebrauchtwagen und ganz eigenen Marktlogiken entstanden, habe ich mich gefragt: Ist auch das der Westen? Also neon, aber eiskalt?
Der Soziologe Steffen Mau, auf den Sie sich im Buch an einigen Stellen beziehen, vertritt die Ansicht, dass der Osten auch in Zukunft anders bleiben wird. Teilen Sie seine Einschätzung?
JB: Ja, der ganze Komplex 1989/90 und seine Folgen werden auch weiterhin Thema bleiben. Man sieht ja gegenwärtig etwa am Beispiel der »Ostfluencerin« Olivia Schneider, dass das auch bei der jüngeren Generation weiterhin ein Thema ist.
AL: Auch ich glaube, dass der Osten definitiv anders bleibt, da er nun mal eine spezifische Geschichte hat, die – anders als oftmals angenommen – nicht plötzlich 1989 zu Ende war, sondern die im Grunde genommen in veränderter Form bis heute weiterexistiert. Aber ich finde es zugleich wichtig, zu betonen, dass der Osten in sich hochverschieden und komplex ist und dass es natürlich mittlerweile auch mannigfaltige Verschränkungen mit dem Westen gibt.
Anna Lux/Jonas Brückner: »Neon/grau. 1989 und ostdeutsche Erfahrungsräume im Pop«, Verbrecher Verlag, 336 S., brosch., 26€.