Am Beginn steht die Frage: Warum über die israelische Linke schreiben? Eine Linke, die einem fast zwei Jahre andauernden zerstörerischen, genozidalen Krieg gegen die Palästinenser*innen im Gazastreifen nichts entgegensetzen konnte – einem Krieg mit offiziell über 60 000 Toten und einer sich nun ausbreitenden und immer weiter verschärfenden Hungersnot? Eine Linke, die es offensichtlich nicht vermocht hat, der israelischen Gesellschaft eine Vision und ein politisches Programm aufzuzeigen, eine Alternative zu den Rachegelüsten der Bevölkerung nach dem Schock vom 7. Oktober 2023? Eine Linke, die die Aufmerksamkeit fortschrittlicher Kräfte in Europa hat, jedoch gleichzeitig zu Hause völlig dezimiert ist und ums sprichwörtliche Überleben kämpft?
Zunächst ist es ihre Standhaftigkeit, ihre Prinzipientreue und Ausdauer, die einen Ankerpunkt bietet, um dem Strudel der Normalisierung und Veralltäglichung »unseres Genozids« (so der Titel eines kürzlich veröffentlichten Untersuchungsberichts der israelischen Menschenrechtsorganisation B’tselem) zu entkommen.
Es muss auch festgehalten werden: Es veränderte sich in den vergangenen Wochen etwas in der inner-israelischen Wahrnehmung der apokalyptischen Situation im Gazastreifen. Nicht nur im Hinblick auf die zunehmende Erschöpfung und Verzweiflung der israelischen Geiselfamilien angesichts von fast 700 Tagen zwischen Hoffen und Bangen oder angesichts von immer mehr Soldaten, die offensichtlich für eine von rechtsextremen Ministern lange erträumten und nun zum Greifen nahe scheinende ethnische Säuberung des Gazastreifens sterben. Auch die von Israel herbeigeführte und teils noch immer geleugnete Hungersnot der Palästinenser*innen im Gazastreifen findet zunehmend – viel zu spät – die Aufmerksamkeit größerer Teile der liberalen Zivilgesellschaft.
Somit ist Regierungschef Benjamin Netanjahu in dieser Hinsicht gescheitert. Mit der Eröffnung einer weiteren Kriegsfront im andauernden regionalen Konflikt mit Iran wollte er die Protestbewegung gegen seine Politik der endlosen Zerstörung des Gazastreifens, der Opferung der israelischen Geiseln zugunsten seines eigenen Machterhalts sowie der sich immer weiter verschärfenden gesellschaftlichen Polarisierung ersticken. Der zwölftägige Krieg mit Iran hat zwar einerseits in weiten Teilen der jüdisch-israelischen Gesellschaft Unterstützung erfahren, trotz der noch nie dagewesenen Zerstörungen in israelischen Metropolregionen wie Tel Aviv, Haifa und Be’er Sheva durch iranische ballistische Raketen.
Gleichzeitig hat er große Teile der Bevölkerung an den Rand der Erschöpfung gebracht – das belegt auch die seitdem noch einmal rapide angestiegene Nachfrage nach psychologischer Betreuung im Land. Eine »Rückkehr zur Normalität«, wie von den israelischen Behörden am Tag nach dem Waffenstillstand mit Iran am 24. Juni ausgerufen, ist für viele Menschen in Israel angesichts der Belastungen der letzten zwei Jahre schlicht nicht möglich.
Währenddessen ist das Protestlager, das sich noch vor Kurzem im Zustand extremer Erschöpfung befand, neu aufgemischt worden. Die Kundgebungen werden dabei häufiger, die Slogans werden schärfer und auch das Leid der Palästinenser*innen findet allmählich seinen Weg in die dominanten liberalen Kreise der Protestbewegung gegen die Regierung Netanjahu und für einen Waffenstillstand.
Gleichzeitig findet das Ausmaß dessen, was kürzlich mit den Organisationen B’tselem[1] und Physicians for Human Rights Israel[2] auch erstmals zwei israelische Menschenrechtsorganisationen als Völkermord an den Palästinenser*innen in Gaza bezeichnen, nach und nach seinen Weg in die israelischen Nachrichtensendungen, die mit ihrer selbstbezogenen, ausschließlich auf das (zweifellos auch vorhandene) israelische Leid ausgerichteten Berichterstattung [3]seit dem 7. Oktober 2023 zur Isolation großer Teile der jüdisch-israelischen Gesellschaft beigetragen haben.
Auch in der israelischen akademischen Welt bewegt sich (endlich) etwas, nach der von Wissenschaftler*innen des Mittelbaus initiierten Black-Flag-Kampagne[4] haben sich Ende Juli auch die Rektoren von fünf großen israelischen Universitäten (darunter die Universität Tel Aviv und die Hebräische Universität Jerusalem) in einem offenen Brief [5]an Ministerpräsident Netanjahu gewandt und die Hungersnot in Gaza scharf verurteilt, verbunden mit einem Aufruf zu einem Waffenstillstand, woraufhin sie von Bildungsminister Joav Kisch der Hamas-Propaganda bezichtigt wurden.
Auf den israelischen Straßen zeigt sich dieses langsam veränderte Bewusstsein durch die Rückkehr der beinahe täglichen Protestaktionen des Anti-Regierungslagers. Nach dem vorläufigen Waffenstillstand mit Iran beziehen sich die Demonstrationen dabei seit Anfang Juli immer häufiger auf die Verantwortung der Regierung für die Verschärfung der Hungersnot im Gazastreifen. Immer stärker hallt dabei der Ruf progressiver Organisationen, angesichts dieser Apokalypse die »Normalität« aufzukündigen.
Mitte Juli fand etwa erstmals eine Demonstration mitten in Tel Aviv statt, in der Tausende Menschen mit Bildern von vor Hunger gestorbener Kinder durch die Stadt liefen. Damit waren die Protestierenden offensichtlich den Redner*innen voraus, die immer noch auf die militärischen Zwecke, den Ruf Israels und die Nicht-Erreichung der Kriegsziele abstellten. Dies änderte sich bereits eine Woche später, als erneut mehrere tausend Demonstrant*innen explizit gegen die Aushungerung Gazas auf die Straße gingen, diesmal auch mit Unterstützung von Initiativen, die sich bisher nicht hinter solchen Slogans versammeln konnten, wie etwa »Soldiers for Hostages« oder die »Protestbewegung der High-Tech-Branche«.
Dass nun Aktivist*innen in großen Zahlen mit diesen Bildern durch israelische Straßen laufen, ist sicherlich auch der Erfolg von früheren Aktionen linksradikaler Gruppen wie dem »Radical Bloc TLV«, die bereits seit dem Frühjahr 2024 auf die horrende Zahl von Israel getöteter Kindern im Gazastreifen – aktuell geschätzt 20 000 – mittels Foto-Flashmobs aufmerksam machten und nun sehen können, wie diese damals als zu radikal empfundene Aktion langsam im den Mainstream der Protestbewegung ankommt.
Weiterhin kamen bei einer Großdemonstration Ende Juli den Organisator*innen zufolge über 10 000 Menschen in der palästinensischen Stadt Sakhnin im Norden Israels zusammen, zumeist palästinensische, aber auch zahlreiche jüdische Staatsbürger*innen Israels, um gegen die Aushungerung und die Zerstörung Gazas zu demonstrieren – trotz der immensen Repression seitens des Staates gegen seine palästinensischen Staatsbürger*innen seit Oktober 2023.
An die Demonstration in Sakhnin schloss sich in der darauffolgenden Woche ein dreitägiger Hungerstreik an, der vom High Follow-Up Committee for Arab Citizens of Israel, dem höchsten politischen Gremium der palästinensischen Staatsbürger*innen des Landes, ausgerufen wurde und an dem sich neben der palästinensischen Knesset-Abgeordneten Aida Touma-Sliman oder dem Vorsitzenden des Gremiums, Mohammad Barakeh, auch jüdische Israelis aus Solidarität beteiligten. Das Streikzentrum in Jaffa war zudem Anlaufpunkt für zahlreiche Veranstaltungen, in denen die Solidarität mit den hungernden Menschen in Gaza im Vordergrund stand.
Somit sind erstmals seit knapp 22 Monaten Hinweise dafür erkennbar, dass die tief verankerte Ausblendung des apokalyptischen Schicksals der Palästinenser*innen im Gazastreifen, die in weiten Teilen der noch verbliebenen liberalen jüdisch-israelischen Gesellschaft vorherrscht, langsam aufbricht. Dies ist, allen Abgründen der aktuellen Situation zum Trotz, ein kleiner Hoffnungsschimmer in einer ansonsten schier nicht enden wollenden Serie an katastrophalen Entwicklungen.
Woran könnte es also liegen, dass größere Teile der israelischen Bevölkerung – offensichtlich längst nicht genug Menschen – »aufgewacht« sind? Neben der Erschöpfung der israelischen Gesellschaft angesichts des andauernden Kriegszustands an multiplen Fronten sowie der Unmöglichkeit, die tatsächlichen Entwicklungen im Gazastreifen von sich fernzuhalten, ist sicherlich auch die weiter eskalierende autoritäre Politik der israelischen Regierung eine Ursache.
Jüngstes Beispiel dafür ist das kürzlich gescheiterte Ausschlussverfahren gegen den langjährigen Knesset-Abgeordneten Ayman Odeh, das von einer beispiellosen Diffamierungskampagne durch Regierungs- und Oppositionspolitiker*innen begleitet wurde und Mitte Juli zu gewalttätigen Übergriffen [6]rechtsradikaler jüdischer Israelis gegen Odeh geführt hat. Auch die fortschreitende Arbeit von Koalitionspolitiker*innen an einem Gesetz[7], welches die politischen Betätigungsmöglichkeiten israelischer NGOs einschränkt, die Spenden von ausländischen staatlich finanzierten Institutionen erhalten, hat in den vergangenen Wochen bis in liberalere politische Kreise hinein für Empörung gesorgt.
Allmählich verbreitet sich die Erkenntnis, dass die autoritäre Politik der Netanjahu-Koalition nach innen auf den messianischen Erlösungsvorstellungen der seit 58 Jahren währenden Besatzungs- und Vertreibungspolitik im besetzten Westjordanland (und eventuell demnächst wieder besetzten Gazastreifen) beruht. Der israelische Menschenrechtsanwalt Michael Sfard beschreibt diesen Prozess in einem kürzlich erschienenen Buch »Besatzung von Innen«[8]: »Das Ziel ist die Vollendung eines Prozesses, der seit über fünfeinhalb Jahrzehnten konsequent vorangeschritten ist: die Einpflanzung der Westbank in den israelischen Staatskörper, bei gleichzeitiger Festigung der jüdischen Vorherrschaft.«
Von dieser politischen Einsicht zu überzeugen, muss das eigentliche Ziel einer universalistischen, auf unteilbare Gerechtigkeit und Gleichheit für alle Menschen in Israel und Palästina ausgerichteten Linken sein und neben die Mobilisierung gegen das Aushungern und die Vernichtung von Gaza treten. Das kann sie effektiv nur im jüdisch-palästinensischen Bündnis machen – weswegen eine Beschäftigung mit ihren Aktionen und die Solidarität mit ihrer Arbeit auch in der hiesigen Linken weiter unentbehrlich ist.
Gil Shohat ist Historiker und leitet seit März 2023 das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Israel.