nd-aktuell.de / 07.08.2025 / Berlin

Kinder ohne eigenes Bett: 16.000 Berliner Wohnunglose unter 18

30 Prozent der in Berlin untergebrachten Wohnungslosen sind minderjährig – innerhalb eines Jahres stieg ihre Zahl um 16 Prozent

David Bieber
Aussichtslos: Der Blick von jugendlichen Wohnungslosen auf den Berliner Mietmarkt
Aussichtslos: Der Blick von jugendlichen Wohnungslosen auf den Berliner Mietmarkt

Mit gerade einmal 17 Jahren ist Alex von zu Hause abgehauen. Er hatte es, wie er im nd-Gespräch schildert, nicht mehr ausgehalten. Zu Hause sei die Hölle los gewesen, die Schule habe er kaum besucht, er habe sich isoliert gefühlt. »Ich wurde erniedrigt, niemand war da für mich.« Dann begann eine weitere schwierige Zeit. Die nächste Hölle quasi. Nur diesmal: auf der Straße.

24 Jahre später ist Alex heute glücklicher Vater von zwei Kindern, arbeitet und hat ein ruhigeres Leben. »Das, was derzeit in Berlin passiert, das ist für mich ein Alarmsignal.« Es könne nicht sein, dass knapp 15 000 minderjährige Wohnungslose[1] in Berlin untergebracht werden müssen, weil sie sonst auf den Straßen schlafen müssten. Dass die Zahl der von den Berliner Behörden untergebrachten wohnungslosen Minderjährigen seit 2020 massiv gestiegen ist, ist laut Alex eine Katastrophe. Er spricht von einer »Politik, die ihre Prioritäten eindeutig verfehlt«.

Aus eigener Erfahrung wisse er, dass hinter der Zahl das Leben von Kindern steht, die in einer instabilen Umgebung aufwachsen. Wie Alex sagt, »oft in überfüllten Sammelunterkünften, ohne Privatsphäre, ohne Sicherheit. Diese Bedingungen zerstören nicht nur ihre Gegenwart, sondern prägen ihre Zukunft: schlechtere Bildungschancen, psychische Belastungen, Misstrauen gegenüber einer Gesellschaft, die sie im Stich gelassen hat.«

Ende Januar 2025 waren in der Hauptstadt 15 710 Minderjährige, also Personen unter 18 Jahren, in der Obhut der Wohnungsnotfallhilfe. Das hatte jüngst die Senatsverwaltung für Soziales auf eine Anfrage der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus geantwortet. Die Minderjährigen werden also in Obdachlosen- und Notunterkünften untergebracht. Die Statistik unterscheidet in diesem Fall nicht, ob die jungen Menschen allein oder mit ihren Familien zusammenleben.

Eine, die sich tagein, tagaus mit wohnungslosen jungen Menschen in Berlin beschäftigt, ist Ines Fornaçon. Die Pädagogin ist Niederlassungsleiterin von »Off Road Kids«. Die deutschlandweite Stiftung kümmert sich um wohnungslose junge Menschen. »Familien, die ihre Wohnung verloren haben oder keine finden, werden folglich untergebracht«, sagt Fornaçon. Dazu seien die Berliner Bezirke verpflichtet. Sie vermutet viele ukrainische Familien mit ihren Kindern unter den Bedürftigen. »Wenn junge Mütter mit ihren Babys und Kleinkindern zu uns kommen, werden diese von uns untergebracht und in betreuten Wohnformen.« In beiden Fällen gelten die Betroffenen als wohnungslos.

Aber auch deutschstämmige Minderjährige, die nicht unbedingt aus Berlin kommen und die die Anonymität der Metropole anzieht, finden sich in den Zahlen wieder, meint Taylan Kurt von den Grünen. Er sitzt im Abgeordnetenhaus und ist Sprecher seiner Fraktion für Soziales und Armutsbekämpfung.

Wie Alex blicken viele Wohnungslose auf ein nicht intaktes Elternhaus zurück oder auf eine Jugendhilfe, mit der die Zusammenarbeit endete oder abgebrochen wurde. Dann folgte allzu oft ein Leben auf den Straßen Berlins und in Unterkünften. »Es fehlt für diese jungen Menschen klar an adäquaten Unterkünften, Jugendhilfe wird nicht (mehr) gewährt«, moniert Pädagogin Fornaçon von »Off Road Kids«.

Der Statistik des Senats zufolge machen die Minderjährigen fast 30 Prozent aller derzeit wohnungslosen und obdachlosen Menschen in Berlin aus. Die meisten wohnungslosen Minderjährigen »wohnten« in Einrichtungen in Charlottenburg-Wilmersdorf und Marzahn-Hellersdorf. Gefolgt von Unterkünften in den Bezirken Lichtenberg, Mitte, Pankow und Steglitz-Zehlendorf.

Besonders krass und daher alarmierend ist der Anstieg der Zahl der minderjährigen Wohnungslosen innerhalb nur eines Jahres. Im Vergleich zu 2024, als es noch 13 480 wohnungslose Kinder und Jugendliche waren, sind es nur zwölf Monate später gut 2000 mehr – das entspricht einem Plus von 16 Prozent. Sie werden zum allergrößten Teil nach dem sogenannten Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) untergebracht. Die Unterbringung erfolgt dem Berliner Senat zufolge primär durch dritte Träger, die für die konkrete Ausführung und Umsetzung von den Bezirksämtern beauftragt würden. Dort gebe es, anders als in den Einrichtungen des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF), laut der Linke-Abgeordneten Elke Breitenbach, keine verbindlichen Vertragsbestimmungen und Standards.

Die Unterbringung erfolge aber auch in den Einrichtungen des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten. Aktuell sind laut Sozialverwaltung 12 565 Minderjährige in diesen LAF-Einrichtungen untergebracht. Das betreffe unter anderem Geflüchtete, deren Asylverfahren positiv abgeschlossen wurde, teilt der Senat auf nd-Anfrage mit.

»Wir brauchen die Möglichkeit, Wohnraum bei Zwangsräumungen beschlagnahmen zu können.«

Taylan Kurt (Grüne)

»Statusgewandelte Flüchtlinge werden zu wohnungslosen Menschen nach ASOG, aber bleiben in den Einrichtungen des LAF«, erklärt Breitenbach, die fünf Jahre lang Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales war. Grund für diese Maßnahme und bürokratische Verwirrung: Die Berliner Bezirksbehörden stellen kaum bis keinen freien Wohnraum zur Verfügung. Auf dem freien Wohnungsmarkt haben besonders diese vulnerablen Gruppen[2] keine Chance. »Also verbleiben sie in den LAF-Unterkünften«, so Breitenbach.

»Es ist kein individuelles, sondern längst ein strukturelles Problem«, meint der Grünen-Abgeordnete Kurt. Denn die Zahl wohnungsloser Familien nehme seit Jahren zu und damit zwangsläufig auch die Zahl der betroffenen Kinder. Warum aber besonders in Berlin? »Weil hier der Wohnungsmarkt für Familien extrem angespannt ist, Mieten explodieren, geraten zunehmend auch Alleinerziehende und Familien in Wohnungslosigkeit«, erklärt der Grünen-Politiker. Ähnlich äußert sich auch die Sozialverwaltung. Allein, dem Senat fehlt ein tragfähiges Konzept oder eine Gegenstrategie. Stattdessen wird auf noch ausstehende Studienergebnisse und auf langwierige Abstimmungsprozesse verwiesen.

Alex rückt indes die für die extrem angespannte Wohnraumsituation verantwortliche Politik in den Vordergrund: »Jahrzehntelange Fehlentscheidungen in Bau- und Stadtentwicklungspolitik haben Berlin in eine Lage gebracht, in der selbst Durchschnittsverdiener kaum noch eine Wohnung finden.« Wenn Sozialwohnungen ab-, nicht aufgebaut werden, räche sich das »auf dem Rücken von Kindern«. Es brauche endlich einen »echten sozialen Wohnungsbau« als »Prävention gegen Wohnungslosigkeit und das klare Bekenntnis: Kein Kind schläft in dieser Stadt ohne eigenes Bett.«

Stattdessen wird es aber wohl noch dramatischer: Die Sozialverwaltung rechnet damit, dass die Zahl der Wohnungslosen bis zum Ende des Jahrzehnts weiter zunimmt und damit auch die Zahl der Minderjährigen. Dann könnte es in Berlin mehr als 86 500 wohnunglose Menschen geben.

Die Abgeordneten Kurt und Breitenbach zeigen sich enttäuscht angesichts des »mangelnden politischen Willens« der aktuellen Regierung. »Es fehlt ein konsequenter Ausbau von Hilfsangeboten«, sagt Kurt. Stattdessen werde im sozialen Bereich weiter gekürzt. Das schränkt den Handlungsspielraum für die Verwaltung ein. »Es wird die dringend benötigte Ausweitung von Housing-First-Projekten und 24/7-Einrichtungen nicht weiter forciert«, kritisiert Taylan Kurt. Konkret fordert er: »Wir brauchen die rechtliche Möglichkeit, Wohnraum bei Zwangsräumungen[3], die vulnerable Gruppen betreffen – wie Haushalte mit Kindern –, durch den Staat beschlagnahmen zu können, wenn es keine adäquaten Ersatzwohnungen für Betroffene gibt.« Auch müssten gesetzliche Hilfen ausgebaut werden, um Personen mit multiplen sozialen Problemlagen ganzheitlich unterstützen zu können.

Elke Breitenbach ist verärgert, dass die aktuelle Regierung nicht an den Projekten aus der Legislaturperiode festgehalten hat, in der Die Linke mit Breitenbach noch mitregieren durfte. Die ASOG-Unterkünfte seien oft in »erbärmlichem Zustand«, müssten dringend und rasch umgebaut werden zu Wohnraum- und Appartement-Strukturen. »Das ist durchaus möglich und schaffe mehr Privatsphäre für die Menschen, die dort leben.« Kurz: Es brauche Wohnraum statt Schlafplätze. Alex, der frühere Obdachlose, findet das richtig. »Wohnungs- und Obdachlose dürften nicht noch mehr stigmatisiert werden.«

Immerhin soll dieses Jahr noch die »gesamtstädtische Steuerung der Unterbringung« (GStU) erfolgen. Dahinter verbirgt sich ein Mechanismus, der die Unterbringung wohnungsloser Menschen koordinieren und »bestehende Kapazitäten«, wie es die Sozialverwaltung nennt, effizienter nutzen soll. Dadurch soll der bisherige Flickenteppich der Wohnungslosenunterbringung der einzelnen Bezirke ersetzt werden. Taylan Kurt begrüßt diesen ersten Schritt. Auch er ist sich aber sicher: »Es wird das Problem nicht an der Wurzel lösen.«

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1192672.recht-auf-wohnen-mein-letzter-hungerstreik-ist-noch-nicht-so-lange-her.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1192022.obdachlosikgeit-bedrohter-unterschlupf-in-kreuzberg-mehr-als-nur-ein-raum.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188790.mietenwahnsinn-raeumungsmetropole-berlin.html