Sommer 2015: Mitten in der Urlaubszeit versammelten sich zwischen Ende Juni und Ende August an jedem Mittwochabend Anwohner*innen in der Kreuzberger Wrangelstraße – zu Beginn in niedriger dreistelliger Zahl, im August zu Tausenden. Sie protestierten dagegen, dass ein im Kiez bekannter Gemüseladen in der Wrangelstraße 77 verschwinden sollte, weil der Hauseigentümer den Mietvertrag nicht mehr verlängern wollte. Der Laden nannte sich Bizim Bakkal[1], türkisch für unser Lebensmittelladen. In den Medien wurden die Proteste im Wrangelkiez als Bizim-Bakkal-Bewegung bezeichnet. Schließlich wurde daraus die Nachbarschaftsorganisation Bizim Kiez, die nach zehn Jahren Einsatz gegen Verdrängung in Kreuzberg noch immer aktiv[2] ist.
Nicht nur in Berlin berichteten 2015 zahlreiche Zeitungen über den Nachbarschaftsprotest. Sogar ein Korrespondent einer US-amerikanischen Zeitung schrieb eine Reportage über den Kreuzberger Wrangelkiez. Bald kamen Interessierte aus anderen Stadtteilen dazu. Kleinkünstler*innen, Musiker*innen und Autor*innen traten mittwochabends bei den Protesten auf. »Für einige Wochen wurde der Wrangelkiez ein Laboratorium für Solidarität in den Städten«, sagt der Stadtsoziologe und Filmemacher Matthias Coers.
Diese Einschätzung teilt Philipp Vergin, der schon 2015 beim Protest im Wrangelkiez dabei war und heute in der Initiative Bizim Kiez aktiv ist. »Als es 2015 mit den Protesten gegen die Kündigung des Gemüseladens losging, wurde aus dem gärenden Unmut eine richtige Bewegung. ›Unser Kiez ist nicht euer Casino‹ – dieser Slogan auf einem unserer ersten Plakate traf einen Nerv in der Nachbarschaft«, sagt Vergin zu »nd«.
»›Unser Kiez ist nicht euer Casino‹ – dieser Slogan auf einem unserer ersten Plakate traf einen Nerv in der Nachbarschaft.«
Philipp Vergin Bizim Kiez
Die Erfahrung, dass niemand alleine sei, trage bis heute, sagt Vergin. »Mit diesem Gefühl sind in den Folgejahren in Kreuzberg und Berlin unheimlich viele Unterstützungsnetzwerke für von Verdrängung bedrohte kleine Läden, Kitas, Hausgemeinschaften oder einfach Mietende entstanden, oft mit unserer Unterstützung«, so der Bizim-Kiez-Aktivist. Die Mischung aus solidarischer Hilfe, Protest und Kultur habe eine »enorme Power« entwickelt und mache Spaß.
Wie erfolgreich die Bewegung allerdings war und ist, ist nicht einfach zu bewerten. Im Fall des Gemüseladens, vor zehn Jahren Ausgangspunkt des Protestes, wurde zwar die Kündigung zurückgenommen. Doch später erkrankte der Händler und der Laden wurde geschlossen. Seitdem steht er leer. Im April 2019 wurde im Anschluss an eine Demonstration von Mieter*innen versucht, die Räume zu besetzen, doch die Polizei räumte brutal. Mehrere Personen wurden dabei verletzt und bekamen Anzeigen wegen Hausfriedensbruchs.
Für Philipp Vergin von Bizim Kiez ist die Tatsache, dass der symbolträchtige Laden heute leersteht, nicht zwingend Ausdruck für eine Niederlage der Prostestbewegung. »Einerseits wäre es natürlich unendlich besser, wenn Bizim Bakkal noch existieren würde oder im Laden ein Nachbarschaftscafé wäre.« Andererseits könne der Leerstand aber auch ein Zeichen dafür sein, dass es Eigentümern nach großen und breit getragenen Protesten auch Jahre später noch schwerfalle, ihre Immobilie zu vermieten. »Weil sich niemand findet, der Profiteur von Verdrängung werden will«, sagt Vergin.
Die Initiative Bizim Kiez hat sich mittlerweile mit weiteren Gruppen verbündet. So engagiert sie sich zum Beispiel seit Monaten gegen die vom Senat geplante Einzäunung des Görlitzer Parks. »Die idiotische Idee von Wegner und Spranger, den Görli nachts abzuschließen, wird zur Verdrängung der Probleme in die Kieze führen und klaut uns einen unersetzlichen öffentlichen Ort«, sagt Vergin. Der Kampf gegen »diese populistische Law-and-Order-Politik« beanspruche allerdings viel politisches Engagement.
Außerdem kämpft Bizim Kiez weiter gegen Eigenbedarfskündigungen, Mieterhöhungen, Zwangsräumungen und für den Erhalt der sozialen Infrastruktur im Kiez. Ein Protesttermin ist schon lange eingeplant. »Wie jedes Jahr werden wir im November wieder unseren widerständigen Laternenumzug gegen Verdrängung[3] durchführen«, kündigt Vergin an. Dort wird neben Lampions auch ein selbst gebastelter Kiezdrachen dabei sein, der aber dank des Engagements der Stadtbewohner*innen nicht mehr gefährlich ist, weil ihm die Zähne gezogen wurden.