Fast ein Monat ist vergangen, seit islamistische Milizen und regierungsnahe Truppen gezielt Angehörige der drusischen Minderheit in der syrischen Provinz Suweida angriffen. Mitte Juli wurden an einem Tag mehr als 200 Drus*innen ermordet[1]. Viele waren vorher nach ihrer Religion gefragt worden. »Ich bin Druse, mein Bruder«, hört man in einem von Reuters verifizierten Video einen alten Mann rufen. Eine Sekunde später wird er erschossen. »Seit dem 13. Juli blutet Suweida«, schreibt eine drusische Aktivist*innengruppe, die für Sonntag in Berlin zu einer Demonstration aufgerufen hat. Und weiter: »Das ist kein Bürgerkrieg, sondern ein Plan zur ethnischen Säuberung.«
Der Ort des Protests ist bewusst gewählt: Vor dem Roten Rathaus hatten vor einigen Wochen syrische Islamisten und Anhänger der neuen Machthaber in Damaskus die Gewalt gegen Drusen bejubelt und offen zur Auslöschung der Minderheit aufgerufen. »Wir trauen uns auch dorthin, wo der Terror war. Wir haben keine Angst vor ihnen«, sagt Omar Alkadamani, der zu den Organisatoren der Demo gehört.
Hunderte sind gekommen, viele auch aus anderen Teilen der Bundesrepublik angereist. In der prallen Mittagssonne wehen drusische Flaggen. Auf Bannern steht: »Wir fordern einen humanitären Korridor nach Jordanien« und »Stoppt diesen Terroristen« neben dem Foto des syrischen Übergangspräsidenten Ahmed al-Scharaa[2]. Zu Beginn verlesen Aktivist*innen ein Statement: Sie fordern die Anerkennung der Massaker an den Drus*innen in Suweida als Genozid, eine unabhängige internationale Untersuchungskommission, humanitäre Visa für Verfolgte und dass das Regime von al-Scharaa nicht anerkannt wird.
»Wir können nicht einfach zu Hause sitzen und weinen. Die Menschen in Suweida brauchen auch die positive Energie von uns, damit sie stark bleiben können.«
Leen Alaouch Verein Sanad
Dann ergreift Tareq Alaows das Wort. »Über 30 Dörfer wurden niedergebrannt. Über 80 Fälle von entführten Frauen wurden dokumentiert. Belagerung und Aushungerung werden als Kriegswaffe eingesetzt«, sagt der flüchtlingspolitischer Sprecher von Pro Asyl. Besonders empört ihn das Schweigen der internationalen Gemeinschaft. »Die Täter werden nicht benannt.« Gewaltaufrufe gegen Drusen gebe es inzwischen auch in Deutschland – teils von »Menschen, mit denen wir gegen Assad gekämpft haben«. Aus seiner Sicht kämpfen die Drus*innen in Suweida »für das Projekt Demokratie in Syrien«. Alaows, der selbst 2015 aus Syrien flüchtete, forderte die Bundesländer auf, Drus*innen in Deutschland zu schützen. Die Vereinten Nationen müssten die Massaker der letzten Monate, aber auch die Verbrechen der islamistischen HTS-Miliz in Idlib und des Assad-Regimes untersuchen.
Enad Altaweel, Mitglied im Landesvorstand der Berliner Grünen, zog Parallelen zum Völkermord an den Jesid*innen 2014 im Irak: »Das Schweigen der Welt damals hat Menschenleben gekostet. Heute droht sich Geschichte zu wiederholen.« Die Täter in Syrien seien »Brüder im Geiste des IS, manche sogar dieselben«. Gegenüber »nd« wirft Altaweel der Bundesregierung »kalkuliertes Schweigen« vor, um Abschiebeabkommen nicht zu gefährden. »Das ist ein Freifahrtschein für Gewalt.«
Der Demonstrationszug zieht vorbei am Auswärtigen Amt zum Brandenburger Tor. Trommeln und Protestlieder hallen durch die Straßen, Flaggen flattern im Wind.
Am Nachmittag geht es mit Musik weiter in der Heilig-Kreuz-Kirche im Stadtteil Kreuzberg. Der humanitäre Verein Sanad hat zum Solidaritätskonzert geladen. »Wir wollen nicht nur laut auf der Straße sein, sondern auch mit unserer Kultur ein Gegengewicht zum islamistischen Terror zeigen«, sagt Omar Alkadamani, der auch hier moderiert. Sanad wurde 2017 gegründet. Seit den Morden des 13. Juli kümmern sich die Aktiven noch einmal viel intensiver als bisher um Menschen in Suweida. »Wir verteilen dort Essen. An einem Tag bis zu 1000 Portionen, gekocht vor Ort«, erzählt Leen Alaouch vom Verein. Der übernimmt auch Krankenhaus- und Medikamentenrechnungen, organisiert über ein Vertrauensnetzwerk Hilfe in der Region.
»Infos bekommst du nur von Menschen, die dort leben«, sagt Leen. Für sie ist klar, dass Helfen auch heißt, die Stimme zu erheben. Trotz Drohungen, sie werde nicht nach Syrien reisen können oder ihr werde etwas angetan. »Wir wollen keinen Krieg. Das ist unsere Kultur und die muss weitergetragen werden«, betont sie. Warum trotz der Lage in Syrien bei den Berliner Drus*innen mehr Kampfgeist als Verzweiflung zu spüren ist? Leen lächelt: »Anders geht es nicht. Wir können nicht einfach zu Hause sitzen und weinen. Die Menschen in Suweida brauchen auch die positive Energie von uns, damit sie stark bleiben können.«