nd-aktuell.de / 11.08.2025 / Kultur

Frau Bolms Weltreich

Drei Geschichten über die Königin der Hanse, aufgeschrieben von einer nahezu objektiven Person

Klaus Ungerer
Wie schön hier alles ist! Die fünfjährige Berlinerin schaut nachdenklich über die Obertrave, dann bricht sie ihrem Vater das Herz.
Wie schön hier alles ist! Die fünfjährige Berlinerin schaut nachdenklich über die Obertrave, dann bricht sie ihrem Vater das Herz.

Die Tochter

Nun gehen wir an Land. An der Obertrave. Und unsere Augen und unser Herz und unser Hirn wissen gar nicht, wo sie sich zuerst mit Schönheit vollsaugen sollen, mit der Backsteinpracht, die so nüchtern wie hinreißend ist, mit der hellen Sonne am Himmel, und nachdem der Blick einmal ringsum geschweift ist, über die putzigen Fassaden und die Schwäne und die Möwen und die glitzernden Wellen und über die ragenden, wartenden, tröstenden Türme und über die Salzspeicher und zum Holstentor hin, können wir wieder ein paar Menschen zur Kenntnis nehmen.

Da steht ein Vater mit seiner Fünfjährigen vor dem Glitzern der Trave, hinter ihnen schweben Möwen auf und nieder, und den ganzen Vormittag sind der Vater und das Mädchen schon in der Altstadt unterwegs gewesen. Sie haben ein kleines Konzert gehört in der Musikhochschule, und mitten im Pianospiel hat sich der erste Zahn des Mädchens gelöst. Sie haben Eis gegessen, haben Marzipangurken und Marzipanschinken gekauft. Im Marionettentheater durfte das Mädchen die Marionetten aufwecken, damit sie losspielen konnten, weil es von allen Kindern im Zuschauerraum die weiteste Anreise hatte – »Berlin!«. Prall voll Stolz schaut der Vater über seine Stadt und seine Tochter, die Tochter aber schaut nachdenklich übers Wasser, und jetzt bricht sie ihrem Vater das Herz. Sie sagt: »Papa! Ich möchte auch meine Kindheit in Lübeck verbringen!«

Der Vater weiß gar nicht, was er erwidern soll, er ist ja Lübecker, er weiß, was das kleine Mädchen jetzt fühlt: Die Schönheit hat es getroffen. Er weiß, dass man eigentlich nirgends sonst auf der Welt aufwachsen sollte als hier. Etwas wühlt im Vater, das zu groß ist für ihn, und dann sagt die Fünfjährige noch, unter ihren süßen Locken: »Papa! Ich habe doch nur EINE Kindheit!«

Das ist eine wahre Geschichte, entschuldigen Sie bitte. Wir wollen sie rasch vergessen, damit ich weitererzählen kann.

Der Stolz

Dass wir als Lübecker etwas Besonderes sind, darauf wären wir ja von selbst erst mal gar nicht gekommen, dafür waren wir viel zu norddeutsch. Uns hat erst Frau Bolm die Augen geöffnet. Frau Bolm war unsere Klassenlehrerin in der Grundschule, Lieselotte oder Hannelore hieß sie oder Meta, und sie weckte binnen einer Schulstunde einen unbändigen Lokalpatriotismus, der in jedem Lübecker und jeder Lübeckerin wohnt, ob er nun jemals weggekommen sei aus der Stadt oder glücklich für immer hängen geblieben oder fortgegangen, gesehnt und zurückgekehrt.

»Lü-beeek« spricht man das übrigens aus, norddeutsches Dehnungs-c!

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Ohne dass wir etwas geahnt hätten, kam Frau Bolm in einer Sachkundestunde auf das Mittelalter zu sprechen und innerhalb des Mittelalters auf eine kompliziert zu erklärende, nicht ganz greifbare Geschichte, deren Namen wir allenfalls am Rande aufgeschnappt hatten bis dahin: die »Hanse«. Die Hanse, das waren keine Könige, Prinzesschen und Ritter, das waren keine Feldzüge, Burgen und Fanfaren, keine qualmenden Trümmer und zerhauenen Leichen, keine Krähen, die dem Besiegten die Augen auspickten. Die Hanse, das waren die Neugierigen unter den Abenteuerlustigen, das waren die irgendwie auch Respektvollen, die andere Menschen und Völker höchstens ein bisschen übervorteilen und betuppen wollten, statt ihnen die Schädel zu spalten und ihre Höfe niederzubrennen – aber auch das eher nicht, denn der heute Betuppte ist dein Feind von morgen und bis in alle Ewigkeit, und Feinde kannst du nicht wirklich gebrauchen als Händler. Der beste Händler ist der, der allen ein gutes Gefühl beschert, inklusive sich selbst.

Die Hansekaufleute jedenfalls segelten übers Meer, bis sie auf andere Händler trafen, und sie sorgten rundum für Zufriedenheit. Salz schafften sie aus dem Süden nach Norwegen etwa, und dafür nahmen sie den guten Trockenfisch mit zurück in die Heimat und Pelze, die sie dort im Übermaß hatten, und so gelang es ihnen, wohin sie auch kamen, innere Freude bei den Fremden und in sich selbst zu erzeugen, eine Freude, die sie auf dem langen Heimweg über die raue See begleitete, derweil ihre Schifffahrtswege unter Frau Bolms Fingern zu roten Linien wurden, zu Handelswegen, zu einem Netz von Bescherung, das sich über die Ostsee und bis nach Russland hin ausbreitete, und dann auch über die Ostseeküste landeinwärts von Stadt zu Städtchen bis nach Münster und Köln hinunter, ein Netz des Fortschritts, der Chancen und des Reichtums: die Hanse!

Das klang schon irgendwie toll. Das klang schon irgendwie schlauer als alles Rittertum und alles Psalmensingen und Leuteverbrennen: Man fährt wo hin. Sagt Moin. Guckt, was es Schönes zu tauschen gibt. Und allen geht es hinterher besser.

So, sagte Frau Bolm, und jetzt kommt die Preisfrage. Wir bewunderten immer noch die roten Linien auf der Karte über Deutschland und Europas Norden.

Eine Stadt, sagte Frau Bolm, war die wichtigste von allen. In dieser Stadt trafen sich die Vertreter aller beteiligten Städte regelmäßig, von dort aus wurden die Richtlinien für den Handel vorgegeben. Man nannte diese Stadt …

Sagte Frau Bolm, eine kleine Kunstpause lassend.

Die KÖNIGIN DER HANSE!

Eine Stadt, eine Königin, so ganz wussten wir nicht, warum uns das interessieren sollte. Frau Bolm wartete. Frau Bolm ermunterte. Zögerlich gingen ein paar dünne Arme mit schlanken Händchen hoch. Die üblichen Meldekandidatinnen meldeten sich, so wie Gesche, die zuverlässig, wenn sie drankam, eine Geschichte von ihrer Oma in Büssau erzählte. »Meine Oma in Büssau sagt immer …«

Die Oma in Büssau hat Gesche stets eine gute mündliche Note verschafft mit ihren Döntjes und Betrachtungen, und eigentlich waren wir ja immer ganz froh, wenn es Neues von ihr zu erfahren gab. Dieses Mal war sie keine große Hilfe. Gesche war auf sich selbst verwiesen. Sie hatte die Karte und die Linien darauf analysiert, hatte aus den vorhandenen Städten die vielleicht größte herausanalysiert.

Ähm, äh, Hamburch?

Ernst bewegte Frau Bolm den Kopf. Nein, Hamburg war es nicht. Aber warm.

Köln?, rief jemand von hinten.

München?

Bremen?

Stockholm?

London?

Bonn?

Alles gute Ideen, alles mächtige Städte, deren Namen man schon mal im Radio gehört hatte, aber jedes Mal schüttelte Frau Bolm ihren Kopf, ein leichtes Lächeln jetzt in ihrem faltigen Gesicht. Es lief perfekt für sie dieses Jahr.

Die KÖNIGIN DER HANSE, sagte sie schließlich, die Erste unter all diesen schönen Handelsstädten, die mächtigste und wichtigste Stadt in ganz Nordeuropa im Mittelalter, hieß …

Lübeck.

Wumms. Da prasselte es uns alles von den Augen. Hansestadt Lübeck, das Nummernschild. Die Ortseingangsschilder. Die Türme. Das Holstentor. Die Touristen. Lübeck, unser kleines, feines, vage gemochtes Lübeck – war die Königin der Hanse. Oder, wie wir bisweilen zu sagen pflegen:

Lubeke / Aller Stede schone / van riker Ehre / dragest du die Krone.

Die Möwen

So ist das in Lübeck (gesprochen Lü-beeek übrigens, norddeutsches Dehnungs-c!). Eine Zeit lang denkst du, das ist eine ganz nette Stadt, in der ich hier wohne, und dann, als Grundschulkind, wird dir eines Morgens schockartig klar, dass das Städtchen der Nabel der Welt ist. Von diesem Moment an kommst du nicht mehr richtig klar: Wieso ist Lübeck mit all dem Gewicht seiner großen Geschichte, mit seiner Bedeutung für den gesamten Ostseeraum, nicht wenigstens Hauptstadt eines Nordstaates mit allen deutschen Bundesländern, die am Meer liegen? Wieso hat es nicht einmal Schleswig-Holstein bekommen, das heute von einem hässlichen Fischerdorf mit Kriegshafen regiert wird?

Solcher Rätsel sind viele, sie sind alle unlösbar, und so macht der Lübecker, was er schon immer getan hat: Er zieht sich in seine Hansestadt zurück. Macht sein Altstadthäuschen noch ein bisschen hübscher mit Muscheln und Blumen und Möwenplastiken und Lübeck-Motiven im Fenster, ganz als würde er vom Fremdenverkehrsamt dafür bezahlt. Dann marschiert er durch seine engen, pittoresken Gässchen und Gruben, lässt den Blick schweifen, wenn er eine Stelle mit Ausblick findet, und denkt, was selbst die grün-weißen VfB-Lübeck-Fans in fremden Fußballstadien schon inbrünstig gesungen haben, und ich mit ihnen, als einer von ihnen:

Lübeck ist die schönste Stadt däwääääält!

Und die Fans hatten natürlich recht. Um es noch einmal zu betonen, falls sie jetzt gerade zu schnell gelesen haben sollten:

Lübeck ist die schönste Stadt der Welt.

Der Text ist ein Auszug aus Klaus Ungerers Buch »Mein Lübeck«. Mare-Verlag, 160 S., geb. mit Lesebändchen, 20 €.