Und dann schlägt sie zu. Ein Dutzend Filmausschnitte hat Regisseurin Marie-Gabrielle Fabre aneinandergereiht, in denen Nastassja Kinski sexuell genötigt wird. Ein Dutzend Versuche älterer Herren, die Minderjährige zu vergewaltigen. Ein Dutzend Kinoszenen habitueller Frauenverachtung, gegen die es vor fast 50 Jahren keine Proteststürme, sondern für die es Preise gab. Bevor das Arte-Porträt »Geschichte einer Befreiung« seinen Titel auch verdient, reiht es Kurzversionen patriarchaler Verhältnisse unkommentiert aneinander, derer sich halbe Kinder einst hilflos ergaben – bis dieses hier nach einem Stein am Boden greift und ihren Peiniger erschlägt.
Endlich! Selten war Notwehr so angebracht wie beim Aufstieg und Fall von Nastassja Kinski, der sich hier als Fall und Aufstieg erweist. Die zweite Tochter des deutschen Weltstars Klaus Kinski wird 1961 schließlich bereits ins patriarchale Gewaltverhältnis jener Tage hineingeboren und bleibt fast zwei Jahrzehnte darin gefangen. Während ihre Halbschwester Pola später Vergewaltigungsvorwürfe gegen den eigenen Vater erhebt, bleibt Nastassja Aglaia Nakszynski zwar von sexuellem Missbrauch verschont. Vorm narzisstischen Choleriker jedoch, sagt sie aus dem Off, »hatten alle Angst«.
Und diese Furcht wirkt offenbar fort. Mit einer Vielzahl Talkshows und Interviews, die Fabres Cutterin Anna Brunstein elegant unter Filmsequenzen und Festivalauftritte mischt, erleben wir ein Mädchen, das zum dekorativen Spielball ihrer Zeit wird. Eine Ära, in der mächtige Film- und Fernsehmänner Frauen nach Belieben zu wohlgefälligen Accessoires handelnder Helden degradieren. Zwischen Heiliger und Hure, Mutter und Affäre, Putzfrau und Hausfrau gab es daher kaum Rollenprofile – schon gar nicht für Nastassja Kinski.
Bereits die stumme Artistin ihrer ersten Rolle in Wim Wenders Goethe-Adaption »Falsche Bewegung« muss 1975 zugleich kindlich und erwachsen, unschuldig und verrucht sein, also alles andere als altersgerecht. Ein Spagat, zu dem die 13-Jährige auch danach gezwungen wird. Ob als Schulkind, das sich im »Tatort: Reifezeugnis« dem Lehrer hingibt, als Teenie, der im Softporno »Leidenschaftliche Blümchen« erotische Erfahrungen sammelt, oder als Studentin, die dem dreimal so alten Marcello Mastroianni im Inzest-Drama »Così come sei« verfällt: Mit jedem Werk rutscht sie tiefer ins Fach der minderjährigen Femme fatale.
Und zwar ausdrücklich gegen ihren Willen. »Ich tat einfach nur, was man von mir verlangte«, sagt Kinski über ihr Dasein als frühreifes Sexobjekt einer vermeintlich befreiten Epoche, die jedoch weiterhin Gefangene macht. Frauen vor allem. Am liebsten junge, schöne, geheimnisvolle, denen man willkürlich Charaktere aufdrücken kann, die so haltbar sind wie der Stempel auf ihrer Schublade. Sie lauten jahrelang Kindfrau mit Sexappeal. Ein Höllenschlund.
Auch volljährig steckt sie schließlich so tief im misogynen Besetzungsprofil, dass Roman Polanski ihrer Titelrolle im Historiendrama »Tess« zwar kurzhaarige Selbstbehauptung zubilligt. Parallel dazu aber wird die 18-Jährige zur Geliebten des Mittvierzigers, der kurz zuvor wegen Geschlechtsverkehrs mit einer Minderjährigen verurteilt worden war und, um weiterer Strafverfolgung zu entgehen, die USA verlassen hat. Das Erbe ihres übermächtigen Vaters hatte sie offenbar ebenso im Griff wie die Branche, in der sie zum Weltstar wider Willen wurde. Wenngleich nicht für immer.
Denn kurz darauf nimmt die »Geschichte einer Befreiung« leibhaftig und dokumentarisch Fahrt auf. Ausgerechnet Wim Wenders nämlich, der ihren Weg in Papas verhassten Beruf geebnet hatte, besetzt sie 1984 erstmals gegen den patriarchalen Strich. Die Hauptfigur im preisgekrönten Roadmovie »Paris, Texas« spielt demnach nicht nur ihre Attraktivität in den Schatten; sie hat auch einen jüngeren Lover. Und wer Nastassja Kinskis Aussagen bei Arte aufmerksam verfolgt, wird merken: Das war ihre Entscheidung.
Tief im Feindesland der damaligen Männermachtgesellschaft von Harvey Weinstein über Gérard Depardieu bis Dieter Wedel hätte dieses Empowerment durchaus mehr als 54 Minuten Dokumentation dieser beispiellosen Freiheitskämpferin verdient. Eine Frau von mittlerweile 64, die im ersten Drittel ihrer Karriere ein scheinbar hilfloses Objekt war und sich aus eigener Kraft vom Joch sexualisierter Unterdrückung befreien konnte. Bislang war Nastassja Kinski eher eine Randfigur der #MeToo-Debatte. Dieser Film könnte, er sollte das ändern.
»Nastassja Kinski – Geschichte einer Befreiung«, 18.8., 23.30 Uhr, Arte (und ab 11.8. in der Arte-Mediathek)