Beim Einschlag einer von der israelischen Armee abgefeuerten Rakete starben in Gaza-Stadt am Sonntagabend fünf Journalisten des TV-Senders Al-Jazeera[1]. Unter den Toten sind die Korrespondenten Mohammad Qreiqeh und der in der gesamten arabischen Welt bekannte Anas Al-Scharif. Zusammen mit den Kameraleuten Ibrahim Zaher, Moamen Aliwa, Mohammad Nufal und zwei Passanten befanden sie sich in einem Zelt am Eingang des Al-Schifa-Krankenhauses, als eine längere Zeit am Himmel kreisende Drohne die Rakete abfeuerte. Al-Scharif hatte seit dem Einmarsch der israelischen Armee immer wieder direkt aus dem Kampfgeschehen oder von Orten berichtet, auf die Bomben gefallen waren. Oftmals gerieten die Rettungskräfte und Journalisten während der Räumungsarbeiten unter Beschuss von Drohnen.
Der 28-Jährige berichtete als einer der letzten Korrespondenten aus dem Norden des Gazastreifens[2]. In dem von der Armee zur Sperrzone erklärten Trümmerfeld harren nur noch wenige Palästinenser aus, die ultrarechte Siedlerbewegung will dort schon bald mit dem Bau von jüdischen Siedlungen beginnen. Viele seiner Kollegen sehen Al-Scharifs Arbeit dort als Grund für die Rufmord-Kampagne, die seit Juli gegen ihn läuft. Die amerikanische Organisation »Committee to Protect Journalists« kritisierte die von Armeesprecher Avihai Adraei immer wieder vorgebrachten Vorwürfe, Al-Scharif sei ein »Hamas-Terrorist«. Kurz zuvor hatte eine tränenreiche Live-Schalte aus einem Flüchtlingslager voller hungernder Familien die Klickzahlen der arabischen Webseite von Al-Jazeera in die Höhe schnellen lassen.
Adraei und die israelische Regierung wollten unbedingt einen internationalen Aufschrei wegen der katastrophalen Lage in Gaza verhindern. Das authentische Auftreten von Al-Scharif und sein Mut, an lebensgefährliche Orte zu gehen, um Israels Version des Geschehens zu widerlegen, wurde ein Problem. »Wir sind zunehmend alarmiert über die Drohungen gegen Anas Al-Scharif und fordern die internationale Staatengemeinschaft auf, ihn zu schützen«, sagte CPJ-Direktorin Sara Qudah Ende Juli. Zu dem Zeitpunkt waren bereits sechs für Al-Jazeera tätige Journalisten getötet worden. Qudah und andere Menschenrechtsaktivisten sahen die israelische Kampagne als Vorbereitung, um auch Al-Scharif zu beseitigen. Anas Al-Scharif sah das ähnlich: »Die Vorwürfe, dass ich für die Hamas tätig sei, sind nicht nur eine Kampagne, um meinen Ruf zu zerstören. Es ist eine direkte Bedrohung für mein Leben.«
»Selbst wenn es gemeinsame Fotos von Journalisten und Hamas-Funktionären gäbe: Ist das ein Grund, einen Journalisten einfach so kaltblütig umzubringen?«
Nasser Abu Bakr Direktor der palästinensischen Journalistenunion
Al-Scharif bestritt stets, irgendeiner politischen Bewegung anzugehören. Aber schon eines der Leitmotive seiner Arbeit war den israelischen Behörden wohl Grund genug, um gegen ihn vorzugehen: »Lass dich von niemandem zum Schweigen bringen, lass dich von keiner Grenze aufhalten. Sei eine Brücke für die Befreiung des Landes.«
Viele Kulturschaffende, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten in Ramallah, Nablus oder Gaza-Stadt lehnen den bewaffneten Widerstand gegen die israelische Besatzung ab. Auch weil sie das konservative Gesellschaftsbild von Islamischem Dschihad und Hamas nicht teilen. Dennoch sehen sie ihre Arbeit als Beitrag, die israelische Besatzung Palästinas zu beenden. »In Westjordanland landen daher Kulturschaffende wie der Direktor des Theaters der Freiheit aus Dschenin und viele Journalisten in Administrativhaft«, sagt Nasser Abu Bakr, der Direktor der palästinensischen Journalistenunion. »Augenzeuge einer Militärrazzia zu sein und darüber zu berichten, kann in Ramallah sechs Monate Haft bedeuten. In Gaza werden meine Kollegen schon wegen ihres Mutes, an gewisse Orte zu gehen, einfach umgebracht.«
Abu Bakr berichtet dem »nd« in Ramallah, dass fast allen der 242 seit dem 7. Oktober 2023 von der israelischen Armee ermordeten Journalisten[3] vorgeworfen wurde, mit der Hamas zu kooperieren oder zu sympathisieren. »Es gibt Fotos, die Journalisten und Hamas-Funktionäre auf öffentlichen Veranstaltungen zeigen. Und von der Armee vorgelegte Kopien von Excel-Tabellen mit Verbindungsdaten oder Rekrutierungslisten, das sind doch angebliche Beweise, die vor keinem Gericht auf dieser Welt Bestand hätten. Und selbst wenn es gemeinsame Fotos von Journalisten und Hamas-Funktionären aus der Zeit vor dem Oktober 2023 gäbe: Ist das ein Grund, einen Journalisten einfach so kaltblütig umzubringen?«
Auf Anfragen verschickt die Pressestelle der israelischen Armee auch im Falle Anas Al-Scharif unkommentierte Excel-Tabellen und Dokumente, die dessen Zugehörigkeit zu der Hamas beweisen sollen. Nicht besonders viel, wenn man bedenkt, dass das Militär die Ermordung von Anas Al-Scharif am Montag bestätigt hat. Damit könnten Ermittlungen wegen eines Kriegsverbrechens sehr wahrscheinlich werden. Die Vereinten Nationen bezeichneten den Angriff auf die unbewaffneten Journalisten am Montag als eklatanten Verstoß gegen internationales Recht[4].
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193244.gaza-krieg-krieg-gegen-worte.html