»Jetzt sind alle Landkarten der Welt Umrisskarten, auf denen wir jeden Morgen die Pfeile neuen Leids eintragen«, schreibt der russische Schriftsteller Alexander Ilitschewski über die Zeit nach dem 24. Februar 2022. Als die russische Invasion in der Ukraine begann, herrschten unter den oppositionellen russischen Schriftsteller*innen anfangs Schock und Sprachlosigkeit vor. Auch das, dieses Suchen nach Worten, nach einer Sprache, die den Geschehnissen angemessen wäre, beschreibt Ilitschewski. Es dauerte, bis der Krieg in der Literatur ankam.
Doch mittlerweile gibt es eine Vielzahl literarischer Auseinandersetzungen mit der neuen Realität. Im Sammelband »Nein! – Stimmen aus Russland gegen den Krieg« hat Autor Sergej Lebedew eine Auswahl zusammengestellt: Kurzgeschichten, Gedichte, Szenisches, Reportagen von Autor*innen, die im Exil leben oder noch in Russland sind und ihre Texte unter Pseudonym beigesteuert haben. Sogar ein Märchen ist dabei, in dem Baba Jaga, die Hexe der slawischen Mythologie, verhaftet wird wegen Verbreitung von Fake News über die russische Armee.
Der Krieg ist immer präsent in diesen Geschichten, aber er bleibt meist im Hintergrund, vorrangig geht es um das Leben im Exil und die aktuellen Zustände in Russland, es geht um Propaganda und Repressionen, um den Umgang mit Verwandten, die der Propaganda glauben oder sich gar freiwillig melden für die »Spezialoperation«. Auch kleine Akte der Solidarität werden beschrieben, etwa das Ablegen von Blumen an Gräbern mit ukrainischen Namen auf russischen Friedhöfen.
Für den Krieg selbst finden die wenigsten Worte, wohl aber für das, was er mit der russischen Gesellschaft macht. Besonders in Erinnerung bleibt da die Erzählung »Das Fest im Dorf« von Alissa Ganijewa. Anhand eines Dorfs in Dagestan zeigt sie einen Staat, in dem nur noch die Wahrheit der Regierungspropaganda gilt. Den Kindern in der Schule wird eingetrichtert, sie seien »Krieger eines riesigen Landes, das heute alleine gegen den Faschismus kämpft«.
Als ein Kind nicht mitmachen will, wenn auf dem Dorffest zu Ehren der »Spezialoperation« marschiert wird, droht die Lehrerin, den FSB, den russischen Inlandsgeheimdienst, zu rufen. Schließlich stehen die Kinder brav in Armeeuniform und mit Fähnchen ausgestattet bereit, um den Veteranen zuzujubeln. Eine patriotische Rede folgt auf die nächste und auch der Museumsdirektor Achmedow soll zur Feier des Tages sprechen, doch während er auf seinen Auftritt wartet, wird ihm immer banger zumute. Er weiß, welche Phrasen und Parolen von ihm erwartet werden. Doch sie wollen ihm nicht über die Lippen kommen, er will nicht Teil sein des großen Lügenkonzerts. Hat er eine Wahl?
Was passiert, wenn man nicht mitmacht, davon handelt die Erzählung »Die dunkelste Nacht« von der russisch-aserbaidschanischen Autorin Jegana Dschabbarowa. Sie erzählt, wie unwirklich es sich anfühlt, zu realisieren, dass jemand einen denunziert hat. »Denunziert« war für die junge Frau kein Wort, das in ihr Leben gehörte, sondern in Geschichtsbücher: »Mir schien, ich sei buchstäblich in den Fleischwolf der Geschichte hineingeraten.« Es folgt, wovon viele Regierungsgegner*innen Geschichten erzählen können: Angst, Flucht, Probleme mit Visa, »Ticketpreise und andere Normalitäten der Heimatlosigkeit«.
Den Abschluss des Bandes bildet der Essay »#LOSTLINGUAL« der tatarischen Autorin Dinara Rasuleva. Sie fügt der Sammlung eine wichtige dekoloniale Perspektive hinzu. Rasuleva erzählt vom Verlust und Wiederfinden ihrer Muttersprache, dem Tatarischen. Bis sie sechs Jahre alt war, sprach sie fließend Tatarisch, aber sobald sie in die Schule ging, ließ sie die Sprache »wie Hausschuhe vor der Tür zurück«. Im Unterricht wurde nur Russisch gesprochen, mit einem tatarischen Akzent galt man als Landei.
Rasuleva wurde erst später bewusst, »dass ich mich für meine eigene Kultur schämte und stolz auf meine Assimilation an eine fremde war«. Die Unterdrückung indigener Sprachen in Russland hat eine lange Tradition und schreitet weiter fort. Rasuleva will sich damit nicht zufriedengeben. 2022 beginnt sie, sich ihre Muttersprache wieder anzueignen und schreibt Gedichte auf Tatarisch, so wie sie sich an diese Sprache ihrer Kindheit erinnert, mit allen Fehlern und Lücken im Vokabular. Sie will einen kleinen Beitrag dazu leisten, ihre Kultur zu bewahren und wiederzubeleben, und schließt ihre Überlegungen mit der Hoffnung, dass, wenn viele sich ihre Muttersprache wieder aneignen, eines Tages »die Kulturen und Sprachen der unterdrückten indigenen Völker das Niveau der Kulturen und Sprachen der Kolonisatoren erreichen«.
Die Anthologie versammelt weniger die großen Namen, also in Deutschland bereits sehr bekannte Autor*innen, sondern viele sehr unterschiedliche Stimmen und Perspektiven, oftmals von Autor*innen, die hier zum ersten Mal für ein deutschsprachiges Publikum zugänglich gemacht werden.
Es gibt also viel Neues zu entdecken in diesem Buch, das auch ein Versuch ist, der Propaganda und Gewalt des russischen Staates mit dem geschriebenen Wort etwas entgegenzusetzen. »Das Wort heilt keine Wunden, lässt die Ermordeten nicht wiederaufstehen, bestraft nicht die Verbrecher«, schreibt Lebedew im Vorwort. Aber trotzdem sei das Wort von Bedeutung, denn »es ist kein Zufall, dass die Staatsmacht in Russland so verbissen all jene verfolgt, die es wagen, die Wahrheit zu sagen, die es wagen zu widersprechen.«
»Nein! – Stimmen aus Russland gegen den Krieg«, hrsg. v. Sergej Lebedew. Rowohlt Verlag, 384 S., geb., 28 €.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193249.russland-im-fleischwolf-der-geschichte.html