Frantz Fanon merkte einst kritisch an, dass marxistische Studien stets etwas gedehnt werden mussten, wenn sie den Zusammenhang von Klassenkampf und Rassismus zum Gegenstand hatten. Er stand nicht allein mit der Meinung, dass im Marxismus einiges fehle, um ihn auch in den Ländern außerhalb Europas wirkungsvoll zur Geltung bringen zu können. Auf andere Art vertrat diesen Standpunkt der 1942 in der Kolonie Britisch-Guayana geborene und 1980 in der inzwischen formal unabhängigen Republik Guayana ermordete sozialistische Theoretiker und Revolutionär Walter Rodney. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat rechtzeitig zu dessen 45. Todestag den Druck seiner Schriften über dekolonialen Marxismus und panafrikanische Revolution in deutscher Übersetzung befördert.
Im Vorwort würdigt der kenianische Schriftsteller Ngũgĩ Wa Thiong’o Walter Rodney als einen Theoretiker, der Marx vervollständigt habe, und stellt ihn von der Bedeutung für die »Dritte Welt« her neben Fanon. Rodney und Fanon hätten die grundlegenden Texte geschrieben, »um die Widersprüche zu verstehen, von denen Afrika und alle ehemals kolonialen Länder Asiens und Südamerikas noch heute heimgesucht werden«. Auch Bafta Sarbo sieht Rodneys Verdienst darin, dass er den Marxismus weiterentwickelte. Sein Anliegen sei stets gewesen, einen Beitrag zur ideologischen Selbstermächtigung der Schwarzen Menschen zu leisten. Auf der anderen Seite, so Vivek Chibber, gehe es darum, Europa zu provinzialisieren, was bedeute, Europa als alleinigen Maßstab und Vorbild fallen zu lassen. Eine Aufgabe, die jedoch nicht bloß durch Vorurteile und weltgeschichtlich entstandene Machtverhältnisse schwierig ist. Die Schwierigkeiten betreffen auch das Handwerkszeug selbst eines plural verstandenen Marxismus. Denn, so noch einmal Ngũgĩ Wa Thiong’o, der Marxismus sei nicht frei von einem oft europäisch eingeengten Blick auf die »Entwicklungen des Kapitalismus zu seinem heutigen Stadium des globalen Imperialismus«.
Im Unterschied zu Fanon, dem eine ideologische Selbstetikettierung fremd war und der kaum als waschechter Marxist bezeichnet wurde, verstand sich Walter Rodney durchaus als Marxist. Ein Credo, das er in einem seiner Essays Amilcar Cabral zuschreibt, nämlich revolutionäre Praxis und Theorie organisch miteinander zu verbinden, kann auch für Rodney gelten. Wichtigster Maßstab für theoretisches Arbeiten ist für ihn die »Verwertbarkeit« der Analysen für die politische Praxis im Befreiungskampf. Doch anders als Fanon misst er programmatische politische Erklärungen und theoretische Konzeptionen eben nicht nur an der gesellschaftlichen Realität der Länder Asiens, Afrikas und Südamerikas, sondern auch am Theoriegebäude des Marxismus. Authentisch marxistisches Arbeiten setze kritisches Denken voraus. Exemplarisch steht für dieses Herangehen seine Kritik am »Ujamaa-Sozialismus« unter dem tansanischen Präsidenten Julius K. Nyerere.
Ebenfalls anders als Fanon lässt Rodney keinen Zweifel daran, dass es für ihn um den Aufbau des Sozialismus geht. Ujamaa sei kein »Afrikanischer Sozialismus«. »Der Wissenschaftliche Sozialismus (oder meinetwegen der Marxismus) ist eine explizite Weltanschauung, die jedes denkbare Phänomen, vom Protein bis zur Literatur, im Sinne einer auf Natur und Gesellschaft anwendbaren Methode betrachtet.« Mit diesen und ähnlichen Aussagen dürfte es Kritikern des Marxismus sowie einigen »modernen« Marxisten leichtfallen, Rodney ins Schubfach des »orthodoxen Marxismus« zu befördern. Doch so leicht sollten es sich die Kritiker nicht machen. Einerseits wäre es durchaus angebracht, dessen Thesen kritisch zu lesen. Doch nicht im Sinne der dogmatischen Ablehnung durch antidogmatische Marxisten, sondern der Weiterführung seiner Ideen. Dieses Herangehen beinhaltet dann auch Verzicht auf Besserwisserei, die jeden historischen Kontext bei der Entstehung der Schriften ausblendet. Andererseits zeigt sich, dass das Kategoriensystem selbst des als orthodox bezeichneten Marxismus durchaus eine heuristische Wirkung besitzt. Rodney fordert sprachliche Genauigkeit und sieht dabei die Verwendung marxistischer Terminologie als ein wichtiges Mittel.
Ngũgĩ Wa Thiong’o würdigt Rodneys theoretische Analyse, die Verflechtungen von Wirtschaft, Politik, Kultur und Werten klar erkennt. Sie führe zum Wesentlichen des Kapitalismus: dem Hauptwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit. »Aber«, so Ngũgĩ Wa Thiong’o weiter, »es gelang ihm, dem die Dimension von Rassismus und Kolonialismus hinzuzufügen.« Der Vorwortschreiber betont: »Die marxistische Klassenanalyse braucht die Dimensionen von ›Rasse‹, Kolonie und Geschlecht, um sie zu vervollständigen.« Indem Rodney die Klassenanalyse in diesem Sinne ergänzt, vervollständige er Marx.
Diese Texte einer der wichtigsten linken Leitfiguren panafrikanischer Bewegungen und des sozialistischen Internationalismus haben keinen Lehrbuchcharakter, können aber anregen zum Weiterdenken und zum Besinnen auf bereits früher Gedachtes, das bei kritisch-solidarischer Betrachtung Bedeutung für eine internationalistisch wirkende Linke noch heute haben sollte.
Walter Rodney: Dekolonialer Marxismus. Schriften aus der panafrikanischen Revolution. Hg. v. Asha Rodney, Patricia Rodney, Ben Mabie u. Jesse Benjamin. A. d. Engl. v. Christian Frings. Karl-Dietz-Verlag, 264 S., geb., 29 €.