Einiges spricht dafür: In Bolivien könnte alsbald nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 17. August die neoliberale Rechte zurück an die Schalthebel der Regierung kommen – inmitten einer schweren Wirtschaftskrise. Um die Nachfolge von Präsident Luis Arce von der Bewegung zum Sozialismus (MAS) bewerben sich acht Männer und keine einzige Frau. Sehr wahrscheinlich ist, dass bei der Wahl am Sonntag keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit erreicht. In diesem Fall würde am 19. Oktober erstmals in der Geschichte Boliviens die Bevölkerung in einer Stichwahl über das Staatsoberhaupt entscheiden; diese Möglichkeit wurde durch die Plurinationale Verfassung von 2009 eingeführt.
Bei der Wahl werden auch 130 Parlamentsabgeordnete und 36 Senator*innen für die nächsten fünf Jahre gewählt, im Mittelpunkt steht jedoch die Präsidentschaftswahl. Arce, der 2020 mit 55 Prozent der Stimmen gewählt worden war, erklärte im Mai seinen Verzicht auf eine Kandidatur. Da ihm die Wirtschaftskrise angelastet wird, hat Arce keinen Rückhalt in der Bevölkerung mehr, seine Kandidatur wäre chancenlos gewesen.
Die vergangenen drei Jahre hatten Arce und der langjährige Präsident Evo Morales (2006-2019) erbittert um die Macht in der MAS gestritten[1], was auch die Gewerkschaften und sozialen Organisationen an der Basis entzweite. Morales hatte an Einfluss verloren, bestand jedoch auf seiner Kandidatur. Das Plurinationale Verfassungsgericht (TCP) verwehrte ihm diese mit der Begründung, dass die Verfassung von 2009 maximal zwei Amtsperioden erlaube – und Morales hatte bereits für zwei Amtszeiten während dieser Verfassung regiert, insgesamt sogar für drei.
Morales versuchte trotzdem, nach seinem Austritt aus der MAS für drei verschiedene Bündnisse zu kandieren – doch das Oberste Wahlgericht (TSE) erklärte alle drei Parteien für ungültig. »Ohne Evo auf dem Wahlzettel gibt es keine Demokratie und keine Wahlen«, drohte Morales daraufhin. Seine Unterstützer*innen blockierten im Juni zwei Wochen lang wichtige Landstraßen, bei Auseinandersetzungen wurden acht Menschen getötet.
Wenn am Sonntag fast acht Millionen wahlberechtigte Bolivianer*innen abstimmen, ist eine Prognose schwierig. Drei Kandidaten gelten jedoch als besonders aussichtsreich: Der liberale Unternehmer Samuel Doria Medina (Alianza Unidad) und der ultrakonservative Wirtschaftswissenschaftler Jorge »Tuto« Quiroga (Alianza Libre) wollen die Krise mit neoliberalen Mitteln bekämpfen, staatliche Unternehmen privatisieren und Subventionen kürzen. Beide scheiterten mehrmals zuvor in Wahlen an Morales und stehen weniger für einen politischen Neuanfang als für einen Rückfall in vergangene Zeiten: Quiroga diente vor einem Vierteljahrhundert als Vizepräsident unter dem vorherigen Militärdiktator Hugo Banzer, nach dessen Rücktritt war er ein Jahr Übergangspräsident; Doria Medina war bereits in den 1990er Jahren Minister. Beide erhalten in Umfragen etwa 20 Prozent der Stimmen.
Andrónico Rodriguez gilt als chancenreichster Kandidat der Linken und liegt mehr als zehn Prozentpunkte hinter den führenden rechten Kandidaten. Rodríguez engagierte sich früh in der Bewegung der Cocaleros und in der MAS, ist seit 2020 Senatspräsident und galt lange als politischer Ziehsohn von Evo Morales. Die beiden zerstritten sich aber, nun tritt Rodríguez für die Alianza Popular an. Sein eher versöhnlicher Ton könnte dem 36 Jahre alten Rodríguez helfen, Brücken in dem polarisierten Land zu schlagen: Nicht weniger Staat verspricht er, sondern einen besseren.
Die MAS nominierte unterdessen den wenig populären bisherigen Innenminister Eduardo Del Castillo, einen 36-jährigen Juristen. In Umfragen liegt dieser bei unter drei Prozent. Einzige Frau im Rennen um die Präsidentschaft war bis vor Kurzem Eva Copa. Die Bürgermeisterin der Millionenstadt El Alto zog Ende Juli ihre Kandidatur zurück und nannte als Grund die Anfeindungen, die sie als Politikerin erfahren hatte.
Die Ausgangslage lässt keine Aussage zu, wer am 8. November das Amt als neuer Präsident übernehmen wird. Wahlumfragen sind in Bolivien oft wenig aussagekräftig, weil sie zum Beispiel die Stimmen der Menschen in ländlichen Regionen unzureichend erfassen; diese machen aber etwa ein Drittel der Wählerschaft aus und bildeten die Grundlage für die Regierung der MAS, deshalb könnten Rodríguez oder Del Castillo besser abschneiden als prognostiziert. Zudem sind viele Wähler*innen noch unentschlossen und es ist ungewiss, ob und für wen die Anhänger*innen von Evo Morales abstimmen werden. Morales ruft inzwischen dazu auf, einen ungültigen Stimmzettel abzugeben, um auf diese Weise eine große Unterstützung für ihn zu demonstrieren.
Bei einem guten Ergebnis wird Morales versuchen, die Wahlen zu delegitimieren. Seinen Widerstand gegen die neue Regierung kündigte er bereits an. »Gemeinsam mit dem Volk werden wir den Kampf auf die Straße tragen«, sagte der 65-Jährige der Nachrichtenagentur AFP in einem Interview.
Jede neue Regierung steht vor schwierigen Entscheidungen[2], da die wirtschaftliche Lage ernst ist: Der Dollar, mit dem viele Waren des täglichen Lebens importiert werden, ist knapp. Deshalb fehlt es auch an Benzin und Diesel, wer tanken möchte, muss meistens mehrere Stunden in der Schlange warten. Zudem steigen die Preise stark, die Inflationsrate lag im Juli bei fast 25 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. Diese Situation verstärkt die Armut und strukturelle Benachteiligungen nur noch weiter.
Widerstand gegen eine als ungerecht empfundene Regierungspolitik könnten, wie in der Vergangenheit Boliviens, soziale Organisationen und andere Bevölkerungsgruppen auf den Straßen leisten. Viele Bolivianer*innen hoffen jedoch, dass es nach dieser Wahl nicht zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt wie 2019. In den Wochen nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl wurden damals bei Protesten und Konfrontationen zwischen den politischen Lagern mindestens 35 Menschen getötet und mehr als 800 verletzt.