Der Präsident der wählerstärksten Partei der Schweiz verbrennt in einem Werbevideo die neuen Verträge mit der EU – just zum Nationalfeiertag am 1. August, an dem auch der US-Präsident dem Land den Zolltarif durchgibt: Treffender als die Schweizerische Volkspartei SVP selbst kann man ihre Desorientierung nicht auf den Punkt bringen.
Was bei der Rechtsaußenpartei kaum überrascht, tut es bei Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter deutlich mehr. Das Problem war ja nicht ihre Taktik bei den Telefonaten mit Trump zu den Zöllen, die schon allenthalben analysiert wurde. Das Problem liegt tiefer, in der Überzeugung, die Keller-Sutter seit Monaten in der Öffentlichkeit vertritt: dass sie einen Zugang zu Trump gefunden habe, die Schweiz als eine der ersten Nationen einen Deal erhalten werde. Es ist wieder einmal die Vorstellung vom eigenen Sonderfall, von einer schicksalhaften, gottgewollten Auserwähltheit seit 1291. Betet, freie Schweizer, betet!
Die Vorstellung zieht sich durch die Mythen des Landes, auch wenn die Forschung längst bewiesen hat, dass die Geschichte der Schweiz eng verflochten ist mit jener der Welt. Dass sie am Handel mit Sklav*innen mitverdiente, von der kolonialen Ausbeutung profitierte und in der globalisierten Gegenwart Steuersubstrat aus allen Himmelsrichtungen anzieht. Wenn der Schweiz im Zollstreit mit Trump nun die Goldraffinerien zum Verhängnis werden könnten, weil sie mit ihren Exporten die Handelsbilanz aufblähen, ist das auch nur der Fluch der bösen Tat: Die Raffinerien stehen bekanntlich hier, weil die Großbanken damit das rassistische südafrikanische Apartheidregime stützten.
Trotz oder vielleicht gerade wegen dieses Wissens feierte die Erzählung von der Auserwähltheit in den letzten Jahren Urständ. Die vermeintliche Schwesterrepublik USA diente der Schweiz dabei als Spiegel. In der Maga-Bewunderung einer Martullo-Blocher (Unternehmerin und SVP-Politikerin, d. Red.), in den Vorträgen der Kompass-Milliardäre (ein Bündnis von Finanzunternehmern unter dem Namen »Kompass Europa«, d. Red.) gegen eine EU-Anbindung und für einen Freihandelsvertrag mit den USA, im Lob von J. D. Vance in seiner Münchner Anti-EU-Brandrede für Keller-Sutter, die er als »liberal in einem sehr schweizerischen Sinn« bezeichnete: Überall führte der Blick in den Spiegel zu einer grotesken Verzerrung der Realität. Während die EU mit ihrer Regelhaftigkeit zum Bürokratiemonster überzeichnet wird, gelten die USA den autoritären Entwicklungen zum Trotz weiterhin als Hort der Freiheit.
Und dann ausgerechnet zum 1. August diese Schmach: Trump verkündet 15 Prozent Zölle für die EU, 39 Prozent für die Schweiz! Die Setzung mag willkürlich sein, aber Willkür ist das erste Merkmal jeder autoritären Herrschaft. Man kann nur hoffen, dass die FDP und die Wirtschaftsverbände diesmal den Schuss gehört haben und endlich aus ihren Träumen erwachen. Denn in der Wirklichkeit sind es das internationale Recht, Verträge und Verbündete, die den Schwächeren und den Kleinstaat schützen.
Letztere befinden sich naheliegenderweise in Europa. Die vordringliche Reaktion auf den Zollstreit ist denn auch der Abschluss der Bilateralen III (ein Vertragswerk der Schweiz mit der EU, d. Red.). Wirtschaftlich braucht es angesichts der drohenden Rezession eine Verlängerung der Kurzarbeit, mittelfristig aber vor allem eine Reduktion der Abhängigkeit von der Pharma – diese steht in den USA wegen ihrer exorbitanten Gewinne auf Medikamente zu Recht am Pranger. Für die Sicherheit stellt sich die Frage, ob die Schweiz weiterhin der Vorstellung einer autarken Verteidigung mit superteuren Kampfjets folgen will – oder ob auch dieser Kauf einer bizarren Selbstüberschätzung entspringt.
Mag sein, dass der Zollstreit am Ende glimpflich verläuft und Trump den hohen Tarif doch nicht ins Werk setzt. Wäre damit der Schweizer Sonderfall gerettet? Doch eher Trumps Willkürherrschaft bestätigt.
Dieser Text ist in Ausgabe Nr. 32 (7.[1] August) unseres Schweizer Partnermediums »Wochenzeitung« erschienen.[2] Der Beitrag wurde nachbearbeitet und gekürzt.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193348.schweiz-jahre-sind-genug.html