Man hatte Ruth Borisch langsam verhungern lassen, bevor sich die Wissenschaft ihrer bemächtigte. Das 13-jährige, schwerkranke Mädchen, das von Geburt an nicht allein stehen und essen konnte, hatte eine Odyssee durch Pflegeanstalten absolviert, bevor es im Juni 1938 in die Landesanstalt Brandenburg-Görden[1] kam. Dort wurde sie wie viele andere Patienten systematisch vernachlässigt, verlor immer mehr an Gewicht und starb schließlich im März 1940. Danach wurden Präparate ihres Gehirns hergestellt, die in dem von Julius Hallervorden geleiteten Institut für Hirnforschung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Berlin-Buch in einer wissenschaftlichen Sammlung landeten.
85 Jahre nach ihrem Tod findet sich der Name von Ruth Borisch in einer Datenbank, in der daneben 30 246 weitere Opfer medizinischer Zwangsforschung in der NS-Zeit genannt werden. Es handelt sich um KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter oder polnische Juden, die Menschenversuchen unterzogen oder deren Körper nach ihrer Ermordung für die Forschung verwendet wurden. Mindestens 1350 der Genannten, sagt Herwig Czech von der Medizinischen Universität Wien, seien den Krankenmorden der Nazis zum Opfer gefallen, die zynisch als »Euthanasie« bezeichnet wurden. Die systematischen Tötungen in Heil- und Pflegeanstalten [2]waren am 18. August 1939 vom Reichsinnenministerium angeordnet worden.
Genau 86 Jahre danach stellten Wissenschaftler der Max-Planck-Gesellschaft und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina die Datenbank vor. Sie ist das Ergebnis eines seit 2017 laufenden internationalen Verbundprojekts und soll nach den Worten von Leopoldina-Präsidentin Bettina Rockenbach sowohl ein »Mahnmal« für die Opfer sein als auch ein virtueller Ort der Aufarbeitung und Mahnung: Wissenschaft dürfe »nicht wieder zur Komplizin des Unrechts« werden.
Die Datenbank wirft ein Schlaglicht auf wissenschaftliche Einrichtungen wie die Institute für Hirnforschung oder für »menschliche Erblehre« der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft[3]. Dort zeige sich beispielhaft die »Verstrickung von Medizin, biowissenschaftlicher Forschung und nationalsozialistischer Rassenideologie«, sagt Rockenbach. Als nach der NS-Zeit die Institute von der 1948 gegründeten Max-Planck-Gesellschaft übernommen wurden, blieb ein Neuanfang aus. Vielmehr habe es »große personelle Kontinuität« gegeben, und die Aktivitäten in der NS-Zeit wurden »vertuscht und beschwiegen«, sagt Czech.
»Hier zeigt sich beispielhaft die Verstrickung von Medizin, biowissenschaftlicher Forschung und nationalsozialistischer Rassenideologie.«
Bettina Rockenbach Präsidentin Leopoldina
Auch Justus Hallervordens Sammlung von Hirnpräparaten wurde bis weit in die 1980er Jahre genutzt. Erst dann legten Forschungen offen, dass viele von Opfern der NS-»Euthanasie« stammten. Eine Kommission untersuchte ähnliche Fälle bundesweit. 1990 seien entsprechende Präparate auf dem Waldfriedhof München »würdig bestattet« worden, sagt Heinz Wässle, Ex-Direktor des heute in Frankfurt (Main) ansässigen Instituts für Hirnforschung.
Die Dimension der Verbrechen verdeutlicht jetzt die Datenbank. Sie nennt neben den über 30 000 Namen der Opfer auch die Orte ihres Leids sowie Namen beteiligter Wissenschaftler. Es habe in den NS-Jahren eine »fieberhafte Forschungstätigkeit« gegeben, teils, um den Krieg zu befördern, teils aus Karrieregründen, sagt Paul Weindling von der Universität Oxford. Dessen mehr als zwei Jahrzehnte währende akribische Recherche trug maßgeblich zur Entstehung der Datenbank bei. Weindling berichtete bei deren Vorstellung auch, wie schwierig sich sein Unterfangen bis zuletzt gestaltete. So habe das Bundesarchiv in Koblenz seine Forschungen »eher behindert« und ihm zeitweise die Fotoerlaubnis entzogen. Recherchen in Deutschland und Österreich würden oft unter Verweis auf die Datenschutzverordnung der EU ausgebremst; Ausnahmegenehmigungen müssten mühsam ausgehandelt werden.
Auch Weindings Beharrlichkeit ist es zu danken, dass die Datenbank jetzt dennoch freigeschaltet wurde. 2026 sollen zudem zwei Bände mit den wissenschaftlichen Ergebnissen des Projekts und zwei Gedenkbücher vorgelegt werden. 2028 soll der Gedenkort auf dem Münchner Waldfriedhof umgestaltet und um die nun bekannten Namen der Opfer ergänzt werden. Man wolle, sagt Wässle, die Erinnerung an die Opfer »wach und lebendig halten, damit Ähnliches nie wieder passiert«.