Wenn man auf einer größeren Petitionsplattform mal für etwas unterschrieben hat, flattern einem faktisch wöchentlich die Anliegen verschiedenster Menschen in den virtuellen Briefkasten. Sehr oft sind Appelle dabei, die drohende Abschiebung einer Person zu verhindern oder einen Menschen nach Deutschland zurückzuholen, der bereits abgeschoben wurde. Meist wird darin betont, wie sehr sich der oder die Betroffene engagiert habe und wie gut er oder sie integriert gewesen sei.
Am 11. August lag eine Petition im virtuellen Postfach, in der drei Schwestern von Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) die Rückholung des 25-jährigen Idar aus Marokko fordern. Der junge Mann lebte zuletzt in Darmstadt – und hatte schon im Frühjahr einen Ausbildungsvertrag in der Tasche. Die Ausbildung zum Altenpflegehelfer sollte am 1. September beginnen. Bislang haben 28 000 Menschen die Petition unterzeichnet.
An Idars Beispiel zeigt sich die Ungleichbehandlung von Geflüchteten. Denn er war Student in der Ukraine, flüchtete nach Beginn des russischen Angriffskriegs nach Deutschland. Doch da »echte« Ukrainer*innen keinen Asylantrag stellen mussten und sofort Bürgergeld erhielten, hatten sogenannte Drittstaatler stets einen äußerst prekären Status.
Der Marokkaner hatte in der Ukraine schon einige Semester Medizin studiert. Er spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch, Französisch, Ukrainisch und mittlerweile auch recht gut Deutsch. Zu Ostern wurde er plötzlich zu Hause abgeholt, in Abschiebehaft gesteckt und am 6. Mai nach Marokko abgeschoben, wie die Initiatorin der Petition, Sylvia Raths, berichtet. Die Behörden stellten den Petentinnen sogar in Aussicht, dass Idar wieder einreisen dürfe – allerdings nur, wenn er für die Kosten der Haft und des Abschiebeflugs aufkomme. Von rund 7000 Euro ist die Rede. Deshalb haben die Petentinnen zugleich einen Spendenaufruf gestartet.
Dabei hätte Idar nach Paragraf 60 des Aufenthaltsgesetzes für die Dauer seiner Ausbildung eine Duldung erhalten können. Seine Abschiebung war nicht unausweichlich.
Ein weiterer Fall: Amira, Erzieherin[1] in einer Offenbacher Kita. Die Afghanin war mit zwei Schwestern und ihrem Bruder vor drei Jahren nach Deutschland gekommen. Zuvor hatten in Litauen einen Schutzstatus erhalten. Da es dort aber keine Jobchance gab, reisten alle vier nach Deutschland weiter.
Amira lernte schnell Deutsch und bewarb sich beim Offenbacher Kita-Träger »Die Krabbelstubb«. Sie hatte bereits in Afghanistan Pädagogik studiert und als Erzieherin gearbeitet. Wurde von den Kindern geliebt, engagierte sich. Stand kurz vor der offiziellen Anerkennung als Fachkraft.
Doch Ende Mai wird sie plötzlich im Morgengrauen verhaftet, kann nur das Nötigste mitnehmen. Seither leben sie und ihr Bruder in einem Auffanglager in Litauen. Denn die Schwestern sind noch in Deutschland. Eine vom Kita-Betreiber gestartete Petition an den hessischen Innenminister Roman Poseck (CDU) und Bundesminister Dobrindt für Amiras Rückkehr nach Deutschland haben 56 000 Menschen unterzeichnet.
Ihre Kolleg*innen schlagen eine Rückkehrmöglichkeit über ein Arbeitsvisum vor und fordern allgemein die »Anerkennung von Engagement, Ausbildung und gelebter Integration in asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren«. Amira ist derweil verzweifelt. Dem Hessischen Rundfunk sagte sie im Juni [2]am Telefon: »Ich habe so viel investiert in dieses Leben in Deutschland. So viele kurze Nächte, so viel Lernen. Ich habe mich so angestrengt, dazugehören zu dürfen. Und jetzt soll das alles umsonst gewesen sein?« Sie habe aus Afghanistan »überstürzt fliehen« müssen und habe nun »wieder alles verloren«.
Es gibt zahllose weitere Fälle, in denen sich zeigt, dass sehr unterschiedlich selbst innerhalb einer Familie entschieden wird. Dabei haben Ausländerbehörden durchaus erhebliche Spielräume, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen sowie jungen Erwachsenen. Dennoch sind von Abschiebungen nach wie vor auch Kinder betroffen[3], die in Deutschland geboren oder aufgewachsen sind. Und in deren Schulbildung bereits viel investiert wurde.
Der Konsens, möglichst viele Menschen abzuschieben, herrscht in den meisten Ausländerbehörden, und zwar nicht erst, seit Altkanzler Olaf Scholz seine »Abschiebeoffensive« ankündigte. Weil in vielen Fällen formale Voraussetzungen für eine Rückführung nicht erfüllt sind, bleibt ihre Zahl naturgemäß stets so begrenzt, dass die AfD und andere rechte Gruppierungen sagen können, die jeweils aktuelle Regierung greife nicht durch. Zumindest, solange sie sich an juristische und menschenrechtliche Mindeststandards hält.
Und so greift man sich Menschen, deren Aufenthaltsort bekannt ist – und die oft alle Kriterien eines »nützlichen« Mitglieds der Gesellschaft erfüllen. So war es auch im Fall eines vergangene Woche in den Irak abgeschobenen Studenten. Ramzi Awat Nabi lebte seit sieben Jahren in Deutschland, hat sein Abitur mit einem Notendurchschnitt von 1,5 bestanden und studierte in Stuttgart Gebäude- und Energietechnik. Im kommenden Jahr wollte er seinen Bachelor-Abschluss machen. Nun wurde er mitten in der Nacht in seinem Zimmer im Studentenwohnheim Stuttgart-Vaihingen festgenommen und nach Bagdad abgeschoben. Der Grund: Die Ausländerbehörde hatte trotz eines gültigen Reisepasses Zweifel an seiner Identität.
Nach Ansicht des Anwalts von Ramzi Awat Nabi, Stefan Weidner, gibt es für seinen Mandanten wohl nur die Möglichkeit, in absehbarer Zeit mit einem Studentenvisum wieder einzureisen. In dem Fall müsste der 24-Jährige die Kosten seiner Abschiebung abzahlen.
Die meisten abgeschobenen Menschen haben unterdessen niemanden, der sich für sie engagiert und Spenden sammelt. Was sie durchmachen, erfährt niemand. Die Fälle, die bekannt werden, zeigen indes: Die Maßnahmen dienen wohl kaum dem deklarierten Ziel, Deutschland sicherer zu machen oder Kommunen zu entlasten.
Aber sie kosten viel Geld, und die Kosten steigen mit dem Bau neuer Abschiebehaftanstalten dramatisch weiter an. So berichtete die »Mitteldeutsche Zeitung« vergangene Woche, das von Sachsen-Anhalt geplante Abschiebegefängnis in Volkstedt werde um ein Vielfaches teurer als geplant. Die Landesregierung rechne mit Baukosten von 37,4 Millionen Euro. Ursprünglich waren vier Millionen veranschlagt.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193391.abschiebungen-aus-deutschland-gegen-jede-vernunft.html