nd-aktuell.de / 20.08.2025 / Kultur

Einsam geht anders

Beim Oslo Jazzfestival wird die Querflöte im Groove-Bett serviert

Jan Paersch
Henriette Eilertsen ist die erste norwegische Flötistin mit einem Jazz-Bachelor-Abschluss.
Henriette Eilertsen ist die erste norwegische Flötistin mit einem Jazz-Bachelor-Abschluss.

Einsamkeit? Vielleicht ganz da oben, in der Finnmark, im äußersten Nordosten Norwegens, wo nur 1,5 Menschen pro Quadratkilometer leben. Aber hier, mehr als 1000 Kilometer südlich, in Oslos Haupteinkaufsstraße? Doch gesellt sich zu dem Dutzend Wahlwerbeständen in der Karl Johans Gate eine Partei, deren Programm ausschließlich das Ziel hat, eine Gesellschaft zu erreichen, in der sich weniger Menschen ausgeschlossen fühlen, die Einsamkeitspartei (»Ensomhetspartiet«).

In Norwegen wird am 8. September ein neues Parlament gewählt, doch von Anspannung oder gar einer aufgeheizten Stimmung ist in den Straßen der Hauptstadt nichts zu spüren. In Norwegen müssen die Parteien ihre Werbeplätze, anders als in Deutschland, kaufen – gedruckte Wahlplakate sind folglich in den Straßen fast gar nicht zu sehen. Die politischen Verhältnisse sind stabil, die mit 26 Prozent der Stimmen regierenden Sozialdemokraten erwarten sogar leichte Zugewinne. Norwegen gilt als eines der reichsten Länder der Welt, das Bildungssystem als vorbildlich. Eine Zeit lang wurde hier jedes einzelne im Land produzierte Musikalbum staatlich gefördert, noch heute wird versucht, jedem Schulkind ein Instrument zu vermitteln.

Hier gibt es alles zu hören: Free Jazz, Folk, Post Bop, Soul, Bigband-Experimente, nächtliche Jamsessions – und Dixieland.

Die Investitionen zahlen sich aus. In diesen Tagen Mitte August sind überall in Oslo junge Musiker*innen zu sehen. Ob in der kuscheligen Kneipe »Herr Nilsen«, wo sich das Publikum zwischen Tresen und winziger Bühne quetscht, in der hippen Bar »Juret« nahe dem Königsschloss oder im Club »Blå« am Rand des Ausgehviertels Grünerløkka – überall spielen Talente unter 30. Wo in den Neunzigerjahren noch Edelmetalle gelagert wurden, ist heute einer der wichtigsten Indie-Clubs der Stadt untergebracht. In diesem Jahr hat sich das »Blå« auf seine Ursprünge als Jazzclub besonnen: Es ist einer der Hauptspielorte des Oslo Jazzfestivals.

Ein warmer Abend im zweiten Stock des Lagerhauses. Die zweite Location des Hauses mit dem schönen Namen »Blå – Himmel« ist rappelvoll, die Luft wird stetig schlechter. Auf der räumlich nicht abgetrennten Bühne spielt Henriette Eilertsen[1].

Die junge Frau ist die erste norwegische Flötistin mit einem Jazz-Bachelor-Abschluss. Warum sie seit Jahren in diversen Osloer Bands gefragt ist und 2024 einen Preis beim renommierten Kongsberg Jazz Festival gewonnen hat, wird schnell deutlich. Eilertsens Trio mit Cello und Schlagzeug erschafft ein dunkles, beinahe Post-Rock-artiges Groove-Bett, der den schwerelosen Querflötenton der Bandleaderin umso heller erstrahlen lässt. Der Klang ist minimalistisch, anspruchsvoll, aber nie abgehoben, das mit Electronics verfremdete Cello klingt mal wie ein Kontrabass, mal wie eine Gitarre.

Ein grandioses Konzert. Auch im Vergleich mit den Fusion-Veteranen von Needlepoint, die eine Etage tiefer im großen Saal des »Blå« auftreten. Bjørn Klakeggs sanft gehauchte Stimme wird mit fauchenden E-Piano-Soli kontrastiert – das Quartett orientiert sich hörbar an britischen Bands wie Soft Machine, die in den Siebzigerjahren Progressive Rock mit Jazz mischten. Klakegg liest seine Texte im Sitzen ab – wirklich rocken mag hier niemand, stimmig ist es dennoch.

Wirklich schweißtreibend wird es an diesem Osloer Abend aber erst im »Herr Nilsen«, der kuscheligen Kneipe. Das Delvon Lamarr Organ Trio wird etliche ähnlich große Etablissements in seinen Anfangsjahren in seiner Heimat Seattle bespielt haben. Dann kam ein millionenfach gestreamter Auftritt beim US-Sender KEXP und die internationale Karriere des Autodidakten.

Delvon Lamarr begann. Lamarr spielt stets eine Hammond-Orgel, schwer wie ein Baby-Elefant und beschwört damit den hitzigen Soul-Funk von Bands wie The Meters herauf.

Weil das erste schon Monate zuvor ausverkauft war, steht im »Herr Nilsen« bereits das zweite Konzert des Abends an. Wie üblich steht das instrumentale Cover von Curtis Mayfields »Move On Up« auf der Setlist, sensationell cool interpretiert vom Organisten.

Das Oslo Jazzfestival hat sich in seinem 39. Jahr nicht auf einen Sound festgelegt. Free Jazz, Folk, Post Bop, Soul, Bigband-Experimente und spätnächtliche Jamsessions; große internationale Namen wie Hermeto Pascoal und Pat Metheny sind eher die Ausnahme.

»Ich hatte einen umfassenderen Ansatz im Kopf, wollte ein größeres Publikum ansprechen – ohne kommerziell zu werden«, sagt Line Juul. Die künstlerische Leiterin ist in ihrem zweiten Jahr, sie gibt das Interview im Laufschritt Richtung Festivalbüro, im Hintergrund bimmelt die Glocke der Straßenbahn. Sie bezeichnet das sechstägige Event als den »kleinen Bruder« der großen Festivals in Molde und Kongsberg, die seit 60 Jahren existieren. »Oslo ist als Reaktion darauf entstanden«, so Juul, »es wurde aber von Jazz-Traditionalisten ins Leben gerufen, in den ersten Jahren war es sehr mainstreamig«. Dixieland gibt es hier noch immer zu hören, im »New Orleans Club« – mit der Ausrichtung des Oslo Jazzfestivals hat dieser gemütliche Swing aber wenig zu tun.
Gressholmen ist eine kleine Insel in den Schären von Oslo, die Fähre braucht nicht einmal 30 Minuten. Inmitten schönster Natur spielt Marius Neset hier auf der Terrasse eines Gasthofes ein Solo-Set. Seit seinen Alben für das deutsche Label ACT ist der Saxofonist aus der Region Vestland international bekannt. »Atemberaubend« ist ein zu häufig gebrauchtes Wort in der Pop-Kritik, aber wenn technische Brillanz und funkensprühender melodischer Einfallsreichtum derartig spektakulär aufeinandertreffen, hat der Rezensent keine Wahl. Ein brillantes Mini-Set.

Die anderen Locations des Festivals sind in der Stadtmitte bequem fußläufig erreichbar, etliche sind restlos ausverkauft. »Die Leute sollten sich daran gewöhnen, dass das auch im Jazz passieren kann«, sagt Line Juul fröhlich.

Wenige Meter vom Jazzclub »Victoria« entfernt, wo der US-Saxophonist Joshua Redman beim Festival später einen umjubelten Auftritt hat, stehen ein Dutzend Wahlwerbestände unter den Bäumen der Karl Johans Gate. Einer gehört der Einsamkeitspartei, gegründet von einer stets sympathisch lachenden Mittvierzigerin mit ihrem Vater. Norwegen solle sich langfristig mit Suizidprävention befassen, heißt es auf der Website. Eine Gesellschaft anstreben, in der sich weniger Menschen ausgeschlossen fühlen – im Kleinen ist diese Utopie längst wahr geworden, in den warmherzig gefeierten Konzerten des Oslo Jazzfestivals.

Links:

  1. https://www.henrietteeilertsen.no/