»Eigentlich ist die Garonne nicht befahrbar«, sagt Bastien, als ich ihm am Nordrand der Pyrenäen 300 Euro in die Hand drücke. Seit acht Jahren bietet er hier Raftingtouren[1] an. Ähnliches werde ich noch öfter hören: Launisch sei die Garonne, ungestüm – nichts für Paddelboote. Für mich klingt das wie Musik: eine Einladung, es genau deshalb zu versuchen.
Als Bastien uns achselzuckend ein grünes Dreier-Kanu überlässt, murmelt mein Freund Christian: »ganz schön schwer.« Seit 20 Jahren will er mit auf eine »dieser durchgeknallten Touren« – jetzt ist es soweit. Wir verstauen unsere Seesäcke, wuchten das Ungetüm zum Wasser, springen hinein – und werden sofort von der Strömung erfasst. Hier, in den Ausläufern der Pyrenäen, ist die Garonne ein wilder Bergbach. Sie zerrt an uns, schleudert uns herum, wirft uns Felsen in den Weg. Manche rammen wir frontal, andere kratzen am Kanu entlang. Doch das ist so robust, dass wir es in Anlehnung an einen gewissen österreichischen Muskelprotz »Arnold« nennen.
Was für ein Ritt! Die Garonne spielt mit uns, wirft Wellen gegen »Arnolds« Flanken, schwappt fröhlich Wasser ins Boot – und macht unmissverständlich klar: Hier haben nicht wir das Sagen. Mit bis zu 15 Stundenkilometern schießen wir talwärts. Schon am frühen Nachmittag erreichen wir die Stromschnellen von Montréjeau. »Lächerlich«, winkt Christian ab – der eben noch nervös war, nun aber am liebsten mitten durch die Hauptströmung will. Eine Anpassungsleistung in Rekordzeit.
Die Garonne entspringt in den spanischen Pyrenäen, fließt über 500 Kilometer fast ungezähmt durch Frankreich, versorgt zwei Millionen Menschen mit Trinkwasser und bildet mit der Dordogne den größten Mündungstrichter Europas – die Gironde. Toulouse[2] und Bordeaux verdanken ihr ihre Lage. Kurz gesagt: Die Garonne ist der Fluss Südfrankreichs.
Entsprechend viel wird die Garonne auch von den Menschen genutzt, die an ihr leben. Immer wieder taucht ein »barrage« auf – ein Wehr, um das wir »Arnold« schleppen müssen. Gut, dass wir von einem unserer AirBnB-Gastgeber ein altes Skateboard zurechtgesägt bekommen haben. Damit wird aus unserem 100-Kilo-Kanukoloss immerhin ein rollender. Eine Tortur bleibt es trotzdem: kein Weg, kein Wagen, keine Bootsrutsche – ganz anders als an der Donau[3] oder der Elbe.
Nach dieser Schinderei beschließen wir, die nächsten Wehre beherzt zu durchfahren. Doch schon beim übernächsten Stauwerk kentern wir. Eine seitliche Strömung drückt uns auf einen Stein, wir kippen wie in Zeitlupe, das Kanu läuft voll, ich werde unter Wasser gezogen, verliere meine Kappe und ramme mir die Hüfte an einem Felsen. Immerhin: Die Seesäcke sind bombenfest verzurrt. Trotzdem zehren Wehre und dornige Ufer an unseren Nerven. Am Abend des zweiten Tages ist klar: »Arnold« ist nicht der richtige Reisegefährte für uns. Zu schwer. Zu durstig, wenn’s um Garonnewasser geht.
Als das nächste Wehr vor uns liegt und es wieder keinen Weg zum Ufer gibt, greife ich zu meinem besten Französisch und rufe Pascale an, unsere AirBnB-Gastgeberin des Tages. Ob sie uns wohl aus dem Fluss holen kann? Wo? Irgendwo bei einem Apfelhain, in der Nähe einer Straße. Zwei Stunden später findet sie uns.
Am nächsten Morgen fährt uns Pascale zu Decathlon, der Sportmarktkette. »Lasst uns ein Kanu kaufen!«, sage ich halb entschlossen, halb erschöpft. Wir erstehen ein aufblasbares Leichtgewicht. Wendiger, schneller, sensibler – wir nennen es »Arnaud«. »Arnold« schenken wir Pascale und ihrem Mann, dem Gärtner von Saint-Martory. Dort dient der Kanukoloss nun als Hochzeits-Fotomotiv.
Wir fahren weiter und erreichen wenige Tage später Toulouse. Christian muss zurück nach Deutschland – ich habe noch zehn Tage, um es bis nach Bordeaux zu schaffen. Von nun an bin ich wirklich allein. Kein Mensch auf dem Wasser, nur Milane, Kormorane, springende Fische – und Nutrias: biberähnliche Zuwanderer aus Südamerika. Auf 500 Kilometern treffe ich genau drei Angler. Sonst: niemanden.
Die Herausforderungen liegen nun nicht mehr auf dem Wasser. Dort herrscht eine fast meditative Mischung aus Wachsamkeit und Gelassenheit. Ich paddle wie im Flow, entwickle einen sechsten Sinn: Oft lenke ich »Arnaud« instinktiv nach rechts – und entdecke erst danach den versteckten Stein, dem ich ausgewichen bin.
An Land aber beginnt das Elend: steile Böschungen, Dornen, Brennnesseln. Ein Kanu an Land hat etwas Lächerliches; es ist eine lahme Robbe. Am schlimmsten: die Stunden nach der Ankunft, wenn ich »Arnaud« irgendwo unterbringen und mich samt Gepäck zur Unterkunft schleppen muss – meist ein bis zwei Kilometer entfernt, oft verschlossen. Wer außerhalb der Öffnungszeiten anruft, hat verloren. Kanutouristen aus Deutschland sind anderes gewohnt, sie trifft das besonders hart.
Wenn es dann doch geklappt hat mit dem Hineinkommen, sind die Unterkünfte fantastisch: Herrschaftshäuser aus vergangenen Jahrhunderten, mit Gärten, Pools und Jacuzzis. Bewohnt von pensionierten Franzosen, die sich ganz besonders über einen zerkratzten Abenteurer freuen – trotz meiner mittlerweile streng nach Fluss riechenden Klamotten. Nachts rauscht die Garonne durch meine Träume.
Tagsüber verlege ich immer mehr ins Boot: Essen, Umziehen, Sonnencreme. Die Hitze drückt – bis zu 38 Grad. Ich lasse etwas Luft aus »Arnaud« und tränke regelmäßig meine neue Kappe im Wasser, um einen kühlen Kopf zu bewahren. 150 Kilometer vor der Küste übernimmt der Atlantik das Kommando: Zweimal täglich kehrt sich die Fließrichtung des Wassers um. Ich muss im richtigen Zeitfenster unterwegs sein. So lande ich bei Frederique, einer herzensguten Frau, die mich nach Bordeaux fährt, um schon vor meiner Ankunft dort die besten Ausstiegsstellen zu finden, und die mich anschließend abends zum Barbecue einlädt – samt neugieriger Nachbarn. Ohne Leute wie Frederique, Pascale und Yannick hätte ich es nie geschafft. Der Süden Frankreichs hält, was er verspricht.
Am letzten Tag meiner Reise sehe ich die erste Brücke von Bordeaux – und paddele wie besessen darauf zu. Die Zeit drängt: Bald ist Ebbe, dann rollt die »Mascaret«, eine Gezeitenwelle, flussaufwärts. Ich muss vorher ankommen. Also gebe ich alles: Paddelschläge wie Maschinenhiebe, das Kanu zickt, will nach links und rechts – mir egal. Ich höre Rufe vom Ufer, ignoriere sie. Im Zickzack unterquere ich die letzten Brücken. Und dann, nach einer halben Million Paddelschlägen, ziehe ich mich an der Pontonbrücke der Wasserwacht an Land.
500 Kilometer, zwei Wochen, ein Muskelkater fürs Leben. Die Garonne – sie ist befahrbar. Und wie.