nd-aktuell.de / 21.08.2025 / Reise

Die Karte der Stille in Skåne

Ruhe – so heißt das schwedische Heilmittel gegen Lärmbelästigung. Die Region Skåne lädt zur Erholung für die Sinne ein

Ekkehart Eichler
Ruheplatz auf dem Anwesen des früheren schwedischen UN-Generalsekretärs Dag Hammarskjöld in Backåkra
Ruheplatz auf dem Anwesen des früheren schwedischen UN-Generalsekretärs Dag Hammarskjöld in Backåkra

Bildschöne Kühe blockieren den Weg. Zwei Dutzend Mutterkühe und Kälber[1], ganz allerliebst, ganz neugierig, ganz friedfertig. Aber Gänsehautfrage: Werden sie das auch bleiben, wenn wir das Gatter öffnen und uns den Weg bahnen durchs Rinderspalier? Kann gut gehen, kann aber auch schmerzhaft enden. Plan A also: Warten! Fruchtet überhaupt nicht. Mensch und Tier glotzen sich weiter unverwandt an übern Koppelzaun. Plan B: Rückzug! Und das funktioniert. Ein Teil der Herde biegt ab nach links, ein Teil nach rechts, der Rest legt sich hin. Jetzt ist der Weg frei.

Das Ziel liegt auf dem Anwesen des früheren schwedischen UN-Generalsekretärs Dag Hammarskjöld (1905–1961) in Backåkra. Mitten im Naturschutzgebiet auf einer Wiese mit famosem Blick auf die Ostsee. Es ist ein kniehoher steinerner Ring, der rund um die Uhr jedem offensteht, der hier eins werden will mit sich und der friedlichen Landschaft. Der Pax-Stein im Zentrum soll Energie abstrahlen und Kraft spenden, der Meditationsring als Ganzes symbolisiert einen »Raum der Stille«. Wobei: Ganz still ist es natürlich nicht; der eine Stunde lang gemessene Geräuschpegel liegt bei 49 Dezibel, das entspricht dem Sound einer ruhigen Wohnung oder Bibliothek.

Natürliche Medizin gegen den Lärm

Etwas leiser sogar noch ist es am zweiten Ort der Recherche: am Krageholmssjön. Dieser See liegt zehn Kilometer nördlich von Ystad, der Hafenstadtheimat[2] des berühmten schwedischen Kriminalkommissars Kurt Wallander. Und auch dieser See war schon mal Kulisse für einen Film: Regisseur Jan Troell drehte hier 1971 für seinen oscarnominierten Film »Emigranten«. Lang ist das her – und der See immer noch wunderschön. Man kann ihn in drei Stunden umrunden, aber auch nur auf dem Rastplatz sitzen bleiben, dem Wind in den Bäumen lauschen, den Vögeln beim Zwitschern zuhören, den Enten beim Flattern übers Wasser zusehen. Die kleine Straße in der Nähe soll die ruhigste sein in ganz Skåne (Schonen) – Idylle-Herz, was willst du mehr!

Zwei von 16 Naturorten, die ausgewählt wurden für die »Karte der Stille«[3]. Eine aktuelle Tourismuskampagne der südschwedischen Region als natürliche Medizin gegen den Lärm der modernen Welt. Denn davon sind laut Europäischer Umweltagentur 20 Prozent der EU-Bürger betroffen, mit zunehmend gravierenden Folgen für Herz und Kreislauf oder auch Schlaf. Ziel der innovativen Aktion also ist es, »Orte zu präsentieren, an denen Menschen Zuflucht vor Lärmverschmutzung finden und echte Stille erleben können«, erklärt Heléne Östberg von Visit Skåne.

Quietude statt kompletter Stille

Die ausgewählten Ruhepole sind relativ unentdeckt und völlig frei von künstlichen Geräuschen wie Verkehr, Industrie, Landwirtschaft oder Menschenlärm. An jedem Standort wurde eine Stunde natürlicher Stille aufgezeichnet, die auf der Webseite in voller Länge gehört werden kann. »Es geht also nicht um völlige Stille, sondern um Friedlichkeit«, erläutert Projektleiterin Josefine Nordgren: »In der Natur ist es selten ganz leise – man hört immer Wind, Wellen, Tiere und das Rascheln der Bäume. Diesen natürlichen Soundtrack nennen wir ›Quietude‹.«

Neben den erwähnten Kriterien spielten bei der Auswahl weitere Faktoren eine wichtige Rolle: Die Ruheorte sollten abgelegen sein und trotzdem leicht zugänglich. Nach Möglichkeit erreichbar mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Über natürliche Rastplätze verfügen wie Felsen und Bäume, um sitzen zu können für den bewussten Stille-Genuss. Nicht zuletzt wird so die Region Skåne in ihrer Vielfalt authentisch abgebildet – mit Küsten und Stränden, mit Wiesen und Wäldern, mit Bächen und Seen –, ein Porträt gewissermaßen aus versteckten Puzzle-Perlen, die vom üblichen Tourismusradar nicht erfasst werden.

Kalkstein-Fantasien und Angler-Idyll

Unsere Ruhenummer drei heißt Gislövshammar: ein winziges Fischerdorf im Südosten von Skåne mit ein paar Häusern nebst hübschen Gärten am Meer. Und einer Kalksteinlandschaft direkt im Wasser, über die man nur staunen kann. Ein Landzungen-Halbkreis aus seltsamen Pfannkuchen-Felsplatten bildet hier eine Art Lagune, deren bleiches Wasser wunderbar kontrastiert mit der tiefblauen Ostsee dahinter.

Und noch etwas Kurioses: Im Kalkstein gibt es diverse große, kreisrunde Löcher. Prima Futter für allerlei surreale Fantasien, doch die Erklärung ist simpel: Hier wurden im 19. Jahrhundert Mühlsteine mit Spitzhacken, Eisenkeilen und Hämmern aus dem Stein gebrochen und bearbeitet. Allerdings nicht sehr lange – der Betrieb war unrentabel und folgerichtig bald vorbei.

Als Ruheort jedenfalls ist Gislövshammar fantastisch. Ein Angler und ein Reiher teilen sich meine Aufmerksamkeit. Der Mensch fängt nichts, der Vogel ist cleverer. Sonst passiert absolut nichts außer plätschernden Wellen. Herrlich!

Wasser für die Tiefenentspannung

Tag vier: Sträntemölla-Forsemölla heißt der nächste Kandidat. Wieder geht es an Kühen vorbei. 50 Meter über die Weide und dann rein in einen wahren Bilderbuch-Buchenwald. Bald hört man Wasser rauschen, bald sieht man es auch. In kleinen Kaskaden schießt es über Stock und Stein durchs Bachbett und stürzt dann doppelarmig zehn Meter in die Tiefe. Ganz sicher kein Niagara-Fall, aber dafür stört hier kein Mensch. Und auch wenn der Sound mit 62 Dezibel naturgemäß höher ist als sonst überall – das fließende und fallende Wasser beruhigt Augen, Ohren und Kopf ganz ungemein. Die Amseln freilich haben’s schwer, den Bach zu übertönen.

Letzte Station: Kjugekull. Ein Waldstück an Skånes größtem Binnensee Ivösjön, das voller Findlinge steckt. Und nicht nur das: Es sind wahre Steingiganten, die hier auf relativ kleinem Raum zusammenliegen. Meterhohe Brocken, teils einzeln, teils in Gruppen, teils aufeinandergestapelt, an denen sich die Fantasie wiederum herrlich austoben kann. Saurierschädel, Hundekopf, Fuchsgesicht, Rüsselnase, See-Elefant, Guillotine – das alles und noch viel mehr haben wir auf dem Rundweg-Spaziergang entdeckt. In einem ausgesprochen friedlichen Wald, in dem nur ein Kuckuck mal zehn Minuten richtig Gas gibt. Ohne ihn liegt der Geräuschpegel bei 47 Dezibel – dem Sound eines ruhigen Wohnzimmers. Im Land der leisen Töne und der Stille als echtem Wohlfühlfaktor.

Die Recherche wurde unterstützt von Visit Skåne.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1186204.milch-produktion-die-kuh-an-sich-ist-kein-klimakiller.html?sstr=Kuh
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1172842.reise-radfahren-kueste-kornkammer-und-kaltbaden.html?sstr=Kurt|Wallander
  3. https://visitskane.com/de/die-karte-der-stille