»Gerade dieser Anschlag in Solingen – eine Stadt, die bereits durch die Erinnerung an den rassistischen Brandanschlag 1993 geprägt ist – wurde parteiübergreifend als Zäsur wahrgenommen.[1]« Das sagte der Bonner Politikwissenschaftler Volker Kronenberg im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst. Der islamistische Anschlag in Solingen[2] stehe, so unterschiedlich die Ereignisse auch seien, in einer Reihe mit den Attacken von Mannheim, Magdeburg und Aschaffenburg. »Diese Ereignisse haben das gesellschaftliche Klima signifikant verändert, auch wenn die Hintergründe jeweils unterschiedlich waren«, so der Politikprofessor aus Bonn.
Die Anschläge haben nicht nur das gesellschaftliche Klima verändert, sondern auch zahlreiche migrationsrechtliche und sicherheitspolitische Verschärfungen[3] veranlasst. Die Bundesregierung weitete nach dem Anschlag die Grenzkontrollen auf die Grenzen[4] zu Dänemark, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg und Frankreich aus. Nordrhein-Westfalen hat »das umfassendste Maßnahmenpaket der Landesgeschichte in den Bereichen Sicherheit, Migration, Prävention« beschlossen. Befugnisse von Polizei und Verfassungsschutz wurden damit ausgeweitet. Geflüchtete werden in ihren Unterkünften seitdem stärker kontrolliert. Außerdem wurden die Verwaltungsgerichte gestärkt, um schneller abschieben zu können.
Die nordrhein-westfälische Landesregierung erinnert zum Jahrestag des Anschlags an das Maßnahmenpaket. Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) betont, dass man die »Verantwortung für das Land« ernst nehme. Seine Stellvertreterin Mona Neubaur (Grüne) spricht sogar über eine »tiefe Zäsur in der Geschichte Nordrhein-Westfalens«, die »politisches Handeln zur Konsequenz haben« musste. Die Oppositionsparteien SPD und FDP hingegen beklagen »Blockaden« bei der Aufklärung im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Besonders im Fokus: Fluchtministerin Josefine Paul. Die SPD wirft ihr Lügen vor, die FDP fordert ihren Rücktritt.
Zumindest eine unabhängige Untersuchungskommission würden sich auch die Überlebenden des Brandanschlags vom 25. März 2024 in Solingen[5] wünschen. Eine entsprechende Unterschriftensammlung der Opferberatung Rheinland hat mittlerweile über 6000 Unterzeichner*innen.[6] Der Brandanschlag, bei dem die vierköpfige Familie Zhilova starb, ist das zweite Ereignis, das Solingen im vergangenen Jahr erschütterte. In der gesellschaftlichen Debatte spielt es allerdings nur eine untergeordnete Rolle. Maßnahmenpakete wurden wegen des Brandanschlags auch nicht geschnürt. Über einen Untersuchungsausschuss zum Brandanschlag wurde auf landespolitischer Ebene überhaupt nicht gesprochen.
Dabei gäbe es gute Gründe dafür. Der Strafprozess gegen den Täter des Brandanschlags, Daniel S., endete vor drei Wochen mit dessen Verurteilung[7] zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung. Daniel S. war geständig, schwieg aber zu seinem Motiv. Das herauszufinden bemühte sich die Nebenklage[8] um Anwältin Seda Başay-Yıldız. Dabei stieß sie auf Ungereimtheiten bei den Ermittlungen. Ein Vermerk, der die Tat als »rechtsmotiviert« einstufte, wurde wieder entfernt. Rechte Propaganda wurde nicht in die Ermittlungsakten aufgenommen. Noch eklatanter: Im Prozess stellte sich heraus, dass Daniel S. im Jahr 2022 vermutlich schon einen Brand gelegt hat, die Polizei diesen aber nach oberflächlichen Ermittlungen als technischen Defekt eingestuft und zu den Akten gelegt hat.
So wie es zahlreiche Vorwürfe gibt, dass die islamistische Messerattacke von vor einem Jahr verhindert worden wäre, wenn die Abschiebung des Tatverdächtigen Issa al H. funktioniert hätte, steht auch die Frage im Raum, ob der Brandanschlag 2024 hätte verhindert werden können, wenn die Polizei 2022 ordentlich gearbeitet hätte.
Auch die Möglichkeit, dass Daniel S. die Brände aus rassistischen Motiven gelegt hat, wurde im Strafprozess heruntergespielt. Richter, Staatsanwalt und Verteidigung waren sich einig. Seda Başay-Yıldız sei »übers Ziel hinausgeschossen«, ein paar Nazi-Bildchen beim Täter kein Beleg für irgendwas.
Der Umgang mit den beiden Solinger Anschlägen sagt einiges über die politische und gesellschaftliche Stimmung in Deutschland. Auf den islamistischen Anschlag folgten rechtliche Verschärfungen und eine Diskursverschiebung, die Geflüchtete in erster Linie als Gefahr sieht. Die Hintergründe des Anschlags spielen dafür nur eine untergeordnete Rolle und mit Maßnahmen wie Messerverboten im Fernverkehr der Bahn bietet Politik nur Scheinlösungen an.
Der Brandanschlag hingegen wurde entpolitisiert und individualisiert. Dabei sorgen rassisitsche Denkmuster immer wieder für gefährliche Taten. Erst letzte Woche wurde die Unterbringung eines Solingers in die Psychatrie angeordnet. Im Februar hatte er in dem Haus, in dem er wohnt, eine Explosion herbeigeführt. Ein Lokalreporter berichtet[9], der schuldunfähige Mann habe sich »von Nachbarn mit türkischem Hintergrund gemobbt« gefühlt. Er unterstellte ihnen, Clans anzugehören, gewalttätig zu sein und mit Drogen zu handeln. Zudem hing der Mann Verschwörungstheorien um den Brandanschlag 1993 an.
Verschwörungstheorien, Vorurteile und psychische Probleme spielen bei schweren Straftaten immer wieder eine Rolle. Bei islamistischen Taten genauso wie bei extrem rechts motivierten. Diese Hintergründe zu untersuchen und aus ihnen Konsequenzen zu ziehen, ist geboten. Beim Brandanschlag von Solingen 2024 ist das nicht geschehen. Das verunsichert Menschen. Menschen, die den Eindruck haben müssen, dass verbrannte Migrant*innen weniger zählen als die Opfer der Messerattacke.