Was wir Kulturbetrieb nennen, ist zu großen Teilen eine komplex angelegte Vermarktungsmaßnahme, die sich gern bedeutsam gibt. Zu seinen Selbstwidersprüchen gehört es, dass er Kulturprodukte gegeneinander in den Wettbewerb schickt – ganz so, als ließe es sich jemals auflösen, welches Kulturprodukt »besser« sei als ein anderes, als müsse nicht jedes Buch, jeder Film, jedes Stück Musik viel eher sich selbst gerecht werden, als dass es bekränzt, prämiert und an die Massen gebracht wird.
Einer der Nebeneffekte der Preisaffinität, auf die Kulturvermarkter und Journalisten gleichermaßen versessen sind, ist dabei das zarte, doch spürbare Aufkeimen von Nationalgefühlen. Wenn Herta Müller oder Heinrich Böll den Literatur-Nobelpreis bekommen, wird vom Kulturkonsumenten daheim erwartet, dass er innerlich die Säge macht, und nahezu ebenso stolz soll er sein auf Lena Meyer-Landrut beim ESC oder Christoph Waltz beim Oscar, selbst wenn der nur Österreicher ist und verdächtig gut Ausländisch spricht – in seinem Fall findet die großdeutsche Idee wieder zu sich, und im emsigen Stolz dieses Landes zeigt sich, wie unbedeutend es eigentlich ist.
Müssen wir jetzt Fahnen schwenken und Böller böllern, wenn es klappt?
Das nur in Klammern. Nach ihrem Preis bei den Filmfestspielen in Cannes dieses Jahr ist die deutsche Regisseurin Mascha Schilinski mit ihrem Film »In die Sonne schauen« nun auch ins Rennen um den Oscar geschickt worden, das heißt, sie ist von einem dazu befugten »unabhängigen« Auswahlgremium namens German Films für würdig erachtet und für das weitere Auswahlprozedere vorgeschlagen worden.
Stante pede ist die hiesige Medienszene geneigt zu vergessen, was von diesem ganzen Hollywood-Schmonz zu halten ist, der den Takt in den Kinos vorgibt, die Kassen bis zum Bersten füllt und oft auch die Vorstellungs- und Gefühlswelten beeinflussbarer Menschen beherrscht. »Für Deutschland«, so ist jetzt, von tagesschau.de bis »FAZ«, im schönsten Sportduktus zu lesen, soll Mascha Schilinski den Oscar »holen«. Als ob irgendjemand von uns etwas zu ihrem Können beigetragen hätte.
Mascha Schilinski, geboren 1984 im Westen Berlins und Filmemacherin seit 2008, hat mit »In die Sonne schauen« ein groß angelegtes Generationen-Epos über ein Dorf in der Altmark geschaffen. Solche Themen der nationalen Selbstvergewisserung mögen deutsche Jurys gern – und niemand würde ihr irgendeinen Preis missgönnen. Mehr Geld, mehr Freiheit für unsere Kulturschaffenden! Aber muss mensch nun Mascha Schilinski diese seltsame Herrenstatuette mehr wünschen als einer Regisseurin aus Thailand, Nigeria oder Dänemark? Muss Kultur-mensch sich hinter seine nationalen Grenzen zurückziehen und unserem Mädel die Daumen drücken? Fahne schwenken und Böller böllern, wenn es klappt?
»In die Sonne schauen« jedenfalls kommt nächsten Donnerstag in die Kinos. Ob und warum der Besuch sich lohnt, erfahren Sie seriös natürlich nur aus unserer parallel erscheinenden Filmbesprechung.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193498.oscars-lokomotive-altmark.html