Die Besucher tanzen, hören mit geschlossenen Augen die Musik oder verfolgen entspannt den Auftritt auf der Bühne. Plötzlich drängt ein junger Mann mit einem 15 Zentimeter langen Messer durch die Menge, sticht zumeist von hinten auf den Hals ein, um in kurzer Zeit möglichst viele Menschen zu töten, wie die Bundesanwaltschaft später schildert.
Es ist 21.37 Uhr, Freitag, der 23. August 2024. Das dreitägige Fest in Solingen zum Jubiläum 650 Jahre Stadtrecht hat begonnen. Innerhalb von nur etwa einer Minute werden bei der Messerattacke auf dem Fronhof drei Menschen tödlich verletzt, etliche weitere schwer. Darunter ist eine Frau, die eben noch fröhlich tanzte. Wenig später stirbt sie in den Armen ihres schwer verletzten Mannes.
Bäume säumen den Fronhof, ein kleiner Platz im Herzen der Innenstadt, von hier ist Solingen zu der Stadt gewachsen. An den Tischen eines Cafés sitzen viele Gäste unter den Sonnenschirmen. Ein Jahr nach dem Terroranschlag ist häufig die Rede von der Rückkehr zur Normalität und dem Gedenken zugleich.
Ein großes, lichtdurchflutetes Kirchenschiff dominiert den kleinen Platz auf der anderen Seite gegenüber. Vor ihrem Eingang wird am 23. August 2025 wieder eine Bühne für Worte des Gedenkens stehen. Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und die halbe NRW-Landesregierung haben sich zu der Veranstaltung der Stadt Solingen und des evangelischen Kirchenkreises angekündigt.
Philipp Müller vom Initiativkreis Solingen hat Bilder lebensgefährlich Verletzter noch vor Augen. Dem schnellen Einsatz der Rettungskräfte sei es zu verdanken, dass es nicht noch mehr Tote gab. Als Mitorganisator eilt er nach den ersten Anrufen zum Fronhof und dann zu den anderen Bühnen, um mit fester Stimme Tausende Menschen nach Hause zu schicken, ohne dass Panik entsteht.
»Wir haben einen Täter, der da rumläuft«, verdeutlicht Müller die gefährliche und unübersichtliche Situation. Andere Solinger berichten, in welch großer Sorge sie um Familienmitglieder und Freunde waren, als der Anschlag bekannt wird. Viele Polizeikräfte treffen ein. Etwa 24 Stunden später können Beamte dann den mutmaßlichen Täter festnehmen. Wie sich herausstellt, wohnte er ganz in der Nähe des Anschlagsortes in einem Flüchtlingsheim.
Ein knappes Jahr nach dem Anschlag feierten die Solinger am zweiten Augustwochenende jetzt wieder. Die Tradition der Sommerparty, die 2024 zum Stadtfest erweitert wurde, entstand 2008. Die Freiheit in der Innenstadt zu feiern, lasse man sich durch ein Attentat nicht nehmen, betont Müller. Teil des Programms 2025 war ein Gedenkkonzert mit einer kleinen Ansprache.
»Es gehört auch dazu, dass die Attentäter gewinnen, wenn wir nicht zur Normalität zurückkehren«, meint Müller. Die Stadt sei zu dem dreitägigen Volksfest gut besucht, aber nicht »rappelvoll« gewesen, wie er es sich als Reaktion gewünscht habe. Das könne viele Gründe haben. Manche Leute seien wegen einer abstrakten Gefährdungslage nicht so aufgeschlossen.
Vieles in Solingen nach dem Messerangriff umzubenennen wie etwa den Slogan der dreitägigen Sommerparty »Echt.Scharf.Solingen.« wäre falsch, sagt Müller. Die jahrhundertealte Tradition der Messer- und Besteckherstellung, mit der Solingen zu Weltruf gekommen sei, könne und dürfe man nicht einfach streichen. Mit dieser Meinung steht Müller bei Weitem nicht allein da.
In der Klingenstadt Solingen gibt es viele Bezüge zur Klingenherstellung, unter anderem das Klingenmuseum, Wegweiser in Klingenform, die evangelische Kirchenkreis nennt sich Klingenkirche. Der Titel des Ehrenpreises der Stadt Solingen bekam zumindest bei der jüngsten Verleihung im November 2024 eine Erweiterung am Anfang: »Für das geschliffene Wort – Die Schärfste Klinge«.
Nach dem Anschlag am Fronhof suchten viele Menschen das Gespräch mit Seelsorgern. Ilka Werner, Superintendentin des Evangelischen Kirchenkreises, erinnert sich etwa an junge Leute mit blutverschmierten Händen, die ein Opfer aufgefangen haben. Am ersten Tag sei es oft um Fassungslosigkeit gegangen. Am zweiten Tag auch um das Gefühl, knapp entronnen zu sein, weil man sich etwa gerade ein Bier geholt habe. »Aber welche Person es traf, war zufällig.«
Am Anfang hätten der Ort, das Blumenmeer und die Kirche im Fokus gestanden, sagt Werner vom Kirchenkreis. Dann habe die Politik übernommen. Nach den ersten großen Statements sei immer wieder von »Nach Solingen« die Rede gewesen. »Und das fand ich aus zwei Gründen furchtbar. Einmal, wir waren in Solingen, für uns war überhaupt nichts vorbei. Also «Nach Solingen» gab es für uns gar nicht«, erklärt Werner.
Zum anderen sei Solingen wieder zu einer Chiffre, zu einem Stempel geworden. Dies kenne die Stadt auch schon aus dem Umgang mit dem Brandanschlag von 1993. Damals hatten vier Rechtsradikale das Haus der türkischstämmigen Familie Genç angezündet. Fünf Frauen und Mädchen starben. Es gelte zusammenzustehen, es dürften keine Gräben entstehen.
Im Hochsicherheitstrakt des Oberlandesgerichtes Düsseldorf läuft seit Ende Mai der Prozess um den mutmaßlich islamistischen Terroranschlag gegen den Syrer Issa al H., der den Messerangriff gestanden hat. Zum Vorwurf der IS-Mitgliedschaft äußert er sich nicht. Auf der Anklagebank hielt er den Kopf anfangs gesenkt. Inzwischen blickt er ohne äußere Regung in den Saal.
Die Bundesanwaltschaft wirft dem Angeklagten dreifachen Mord und zehnfachen versuchten Mord vor. Wenige Stunden vor der Tat soll er dem sogenannten Islamischen Staat in Videos die Treue geschworen haben. Mehrere Überlebende berichteten, wie sie noch heute unter körperlichen Einschränkungen oder psychischen Folgen der Messerattacke leiden.
Hätte der Anschlag verhindert werden können? Mit dieser Frage beschäftigt sich ein Untersuchungsausschuss im NRW-Landtag. Ein Punkt dabei: Issa al H. hätte eigentlich Mitte 2023 EU-Asylregeln zufolge nach Bulgarien abgeschoben werden sollen. Als er aus seiner Unterkunft in Ostwestfalen abgeholt werden sollte, war er aber nicht zu finden. Ein weiterer Rückführungsversuch wurde nicht unternommen. Da die Frist zur Überstellung den Angaben zufolge nicht verlängert werden konnte, wurde er August 2023 nach Solingen überwiesen. dpa