Man kennt es bereits aus Bürgergeld-Statistiken[1]: Von 5,56 Millionen Menschen, die Sozialhilfe bezogen, waren 2024 rund 830 000 Personen Aufstocker. Das heißt, sie haben einen Beruf, ihr Gehalt reicht aber nicht aus. Diesen Trend zeigte nun auch der Jahresbericht der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) auf. 13 Prozent der Klient*innen der Wohnungsnotfallhilfe sind demnach erwerbstätig, ihre Anzahl stieg in den letzten zehn Jahren stetig. Trotz Berufstätigkeit können sie sich also das Wohnen nicht leisten. Auch die Gruppe der über 60-Jährigen in Wohnungsnot nimmt langsam, aber konstant zu, was darauf schließen lässt, dass die Renten ebenfalls nicht ausreichen.[2]
»Der Anstieg der Erwerbstätigen in Wohnungsnot erklärt sich nicht ausschließlich, aber primär über den Anstieg der Personen in Wohnungsnot ohne deutsche Staatsangehörigkeit«, erklärt Joachim Krauß, Fachreferent für Migration bei der BAG W, im Gespräch mit »nd«. 38 Prozent der Klient*innen der Wohnungsnotfallhilfe haben keine deutsche Staatsangehörigkeit, ebenfalls ein neuer Höchststand. 20 Prozent von ihnen leben trotz Erwerbstätigkeit in Wohnungsnot, ihr Anteil an erwerbstätigen Klient*innen ist doppelt so hoch wie jener mit deutscher Staatsbürgerschaft. Generell sei es ein Problem, dass sich Menschen mit Arbeit keine Wohnung leisten könnten. »Die Situation auf dem Wohn- und Arbeitsmarkt ist für Nichtdeutsche aber noch prekärer«, so Krauß.
»Die Situation auf dem Wohn- und Arbeitsmarkt ist für Nichtdeutsche noch prekärer.«
Joachim Krauß Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe
Klient*innen sind in der Statistik der BAG W Personen, die helfende Strukturen aufsuchen, weil sie sich in Wohnungsnotfällen befinden. Das bedeutet zum Beispiel, sie sind von Wohnungslosigkeit betroffen oder bedroht oder leben in unzumutbaren Verhältnissen. Wohnungslos sind jene, die in staatlichen Unterkünften oder bei Bekannten unterkommen. Der Hauptgrund für Wohnungslosigkeit sind weiterhin Miet- und Energieschulden.
Wie der Bericht der BAG W aufzeigt, verstärken sich Wohnungs- und Arbeitslosigkeit der nicht-deutschen Klient*innen gegenseitig. Krauß und seine Kollegin Sarah Lotties beschreiben in ihrem Bericht eine Art Teufelskreis[3]. Zusätzliche Barrieren wie ausländische Qualifikationen, die nicht anerkannt werden, führen zu prekären oder irregulären Beschäftigungsverhältnissen, mitunter auch zu Arbeitslosigkeit. Ein fehlendes gesichertes Einkommen erschwert die Wohnungssuche merklich. Umgekehrt beeinflusst die Wohnsituation die Aussichten auf einen Arbeitsplatz.
Hinzu kommt eine Polarisierung der Debatte. »Rechte Rhetorik und die Instrumentalisierung von Wohnungsknappheit für migrationspolitische Argumentationen schaffen ein gesellschaftliches Klima, das Vorurteile manifestiert und Diskriminierung zu legitimieren versucht«, formulieren es Krauß und Lotties. So berichtet inzwischen jede dritte Person mit Migrationshintergrund laut der Antidiskriminierungsstelle des Bundes von rassistischer Diskriminierung bei der Wohnungssuche.
Ebenfalls erschreckend ist die Zahl der Personen in Wohnungsnot, die in Haushalten mit Kindern leben. Auch sie liegt mit 11 Prozent auf einem neuen Höchststand. Der Wert sank 2021 erstmals seit Jahren und stieg danach wieder an. Die BAG W erklärt sich das durch Maßnahmen zu Beginn der Pandemie 2020. Damals wurden Zwangsräumungen vielerorts »zumindest in Haushalten mit Kindern« zeitweilig ausgesetzt, aber bereits 2021 nachgeholt.
Dass sich Menschen in Wohnungsnot nicht nur durch Erwerbstätigkeit, sondern auch so lange wie möglich durch andere Mittel vor Wohnungslosigkeit zu bewahren versuchen, zeigt sich am Beispiel der Unterkunftssituation: Knapp die Hälfte aller wohnungslosen Klient*innen leben bei Familie, Partner*in oder Bekannten. »Werden diese «Zwischenlösungen» ausgereizt oder bestehen gar nicht erst derartige Möglichkeiten, bleiben den Hilfesuchenden das Leben auf der Straße oder die Unterbringung in Einrichtungen und Diensten freier oder kommunaler Träger«, beschreibt es die BAG W.
Männer sind mit 79,9 Prozent der Klient*innen deutlich stärker von Wohnungslosigkeit betroffen als Frauen (62,9 Prozent). Frauen sind dagegen häufiger von Wohnungslosigkeit bedroht. Die BAG W schließt daraus, dass Frauen früher Beratungsstellen aufsuchen als Männer. Ähnlich sehen die Verhältnisse bei Klient*innen mit Kindern aus – auch sie scheinen sich bei drohender Wohnungslosigkeit früher um Hilfe zu kümmern als Kinderlose. Zugleich sei aber aus der Praxis bekannt, dass sich viele Familien aus Angst vor einer Fremdunterbringung der Kinder erst spät an die Wohnungsnotfallhilfe wenden würden.
Die BAG W fordert deshalb einen deutlichen Ausbau des sozialen Wohnraums, einen stärkeren Fokus auf präventive Maßnahmen und einen uneingeschränkten Zugang zu Hilfen, unabhängig vom Aufenthaltsstatus der betroffenen Personen. »Solange es in Deutschland keinen ausreichenden Bestand an bezahlbarem Wohnraum gibt, wird es auch keine wirksame Bekämpfung von Wohnungslosigkeit geben«, so Susanne Hahmann, Vorsitzende der BAG W, in einer Aussendung.
Das Wort Wohnungslosigkeit kommt im Koalitionsvertrag im Übrigen nur einmal vor – mit Verweis auf den Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit, der umgesetzt werden solle. Den Plan hatte die Ampel-Regierung 2024 beschlossen, er sah eine Überwindung der Obdach- und Wohnungslosigkeit bis 2030 vor. Schon damals kritisierten Sozialverbände das Vorhaben als in vielen Aspekten zu unkonkret. Die aktuelle Bundesregierung aus Union und SPD beschloss bisher eine Verlängerung der Mietpreisbremse zur Deckelung der Preise auf zehn Prozent der Bestandsmieten in angespannten Märkten sowie den Wohnungsbau-Turbo für schnelleres Bauen.[4]
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193504.wohnungslosigkeit-wenn-arbeit-nicht-zum-wohnen-reicht.html