Als die Juristin Kimberlé Chreshaw in den späten 1980er Jahren den Begriff der Intersektionalität prägte, um die Verwobenheit verschiedener Diskriminierungs- und Machtverhältnisse zu veranschaulichen, dachte sie dabei wohl auch an Menschen wie Marouane Bakhti. Denn Rassismus kennt der junge Franzose ebenso wie Homophobie. In seinem Romandebüt »Wie man aus der Welt verschwindet« hat er – in der Tradition von Landsleuten wie Annie Ernaux oder Édouard Louis stehend – seine Lebensgeschichte nun in das Reich der Autofiktion überführt.
Aufgewachsen als Kind einer Französin und eines nach Frankreich emigrierten Marokkaners, wird er früh konfrontiert mit den verschiedenen Erwartungshaltungen seiner Mitmenschen: Sein Vater etwa ist um Assimilation bemüht, er möchte als migrantisch gelesene Person ein möglichst unauffälliges Leben in der französischen Mehrheitsgesellschaft führen. Doch zugleich ist er traditionellen Geschlechtervorstellungen verhaftet und gibt seinem queeren Sohn wiederholt zu verstehen, was es seiner Ansicht nach bedeutet, ein Mann zu sein. »Mein Vater wurde zu einem Monster der Männlichkeit«, heißt es an einer Stelle resümierend.
Trotz aller Brutalität wird das Buch auch von einer feinen Zärtlichkeit durchzogen, die eine Hoffnung in sich trägt.
Früh erkennt der Erzähler, dass sein Leben und die damit einhergehende Deutungshoheit nicht ihm gehören, dass er vielmehr ein Spielball seiner sozialen Umwelt ist: »Ich suche einen jungen Araber«, schreibt ihm etwa ein Fremder in einer Dating-App. »Unser Leben ist in Frankreich«, gibt ihm wiederum sein Vater zu verstehen. Seine Therapeutin, zu der er nach anfänglichen Schwierigkeiten ein Vertrauensverhältnis aufgebaut hat, lässt ihn wissen: »Sie müssen aus Ihrer Kultur und all diesen Regeln ausbrechen«, während ihn seine Cousins dafür auslachen, dass er nicht wisse, wie ein echter Muslim bete.
Bakhti gelingt es dabei über weite Strecken in atemberaubender Weise, seine innere Zerrissenheit in eine literarische Form zu transformieren. Wie Maschinengewehrsalven rattern die prägnanten Sätze in »Wie man aus der Welt verschwindet« und die kurzen Absätze, aus denen das Buch besteht, sodass es anfangs etwas dauert, einen größeren Zusammenhang zu erkennen und in die inhaltlichen Tiefen des Romans einzutauchen. Doch ein langer Atem lohnt sich.
Aller geschilderten Brutalität und Abgründigkeit zum Trotz wird das Buch auch von einer feinen Zärtlichkeit durchzogen, die eine vage Ahnung in sich trägt, dass nichts in dieser Welt aussichts- oder alternativlos ist. Rührend etwa die Schilderung, wie sich der Erzähler in jungen Jahren mit »Lumpen und Bettlaken« verkleidet und somit ein neues Ich kreiert, was ihm retrospektiv als »unglaubliche, große Augenblicke der Freiheit« erscheint. Auch die Szene der ersten Begegnung mit S., seinem späteren Partner, berührt: »In seiner Art, das Gespräch zu lenken, was meine Schüchternheit mir nicht erlaubt, erkenne ich, dass er schön ist.«
Es ist gut, dass der Autor nicht der Versuchung erliegt, die Zerrissenheit zwischen den verschiedenen Identitäten und Erwartungshaltungen am Ende einseitig und kitschig aufzulösen. So werden die Ängste und Sorgen, aber auch das Glück des Protagonisten durch die intensive Lektüre schließlich zu jenen der Lesenden.
Marouane Bakhti: »Wie man aus der Welt verschwindet«, 148 S., geb., März, 20 €