nd-aktuell.de / 26.08.2025 / Kultur

»Wohin gehen Sie?«

Museyroom (Teil 24): Das neue Rotterdamer Migrationsmuseum Fenix setzt auf Kunst

Jürgen Schneider
Nur noch ein Dachblick vom Museum: Die alte Abfahrt in eine ungewisse Zukunft in Übersee
Nur noch ein Dachblick vom Museum: Die alte Abfahrt in eine ungewisse Zukunft in Übersee

Im Jahr 1750 begab sich der Württemberger Schulmeister Gottlieb Mittelberger in Rotterdam auf ein Segelschiff. Das Ziel des Emigranten: Amerika. Während der Atlantiküberquerung starben 32 Kinder. Die Leichen wurden ins Meer geworfen. Über die Zustände an Bord schrieb Mittelberger: »Während der Seefahrt aber entstehet in denen Schiffen ein jammervolles Elend, Gestank, Dampf, Grauen, Erbrechen, mancherley See-Krankheiten, Fieber, Ruhr, Kopfweh, Hitzen, Verstopfungen des Leibes, Geschwulsten, Scharbock, Krebs, Mundfäule und dergleichen, welches alles von alten und sehr scharf gesalzenen Speisen und Fleisch, auch von dem sehr schlimmen und wüsten Wasser herrühret, wodurch sehr viele elendiglich verderben und sterben. Dieser Jammer steiget alsdann aufs Höchste, wann man noch zwei bis drei Tag und Nacht Sturm ausstehen muss, dass man glaubt, samt Schiff zu versinken, und die so eng zusammengepackten Leute in den Bettstatten dadurch übereinander geworfen werden, Kranke wie Gesunde; manches seufzet und schreyet: Ach! wäre ich wieder zu Hause und läge in meinem Schweinestall.«

Aus Irland emigrierten ab 1820 sechs Millionen Menschen, die ähnliche Erfahrungen wie Mittelberger machten. Ihren Höhepunkt erreichte die irische Auswanderungswelle in Folge der von der Kartoffelfäule ausgelösten Großen Hungersnot (1845–1852). Auf den »Sargschiffen« starben viele der dem Hunger Entfliehenden.

Ab 1873 existierte die Holland-Amerika-Linie, auf deren Schiffen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Millionen Menschen von Rotterdam in die USA, nach Kanada, Australien und Neuseeland auswanderten. Emigration erfolgte auch in Richtung Rotterdam, wo heutzutage Menschen aus 120 Nationen zusammenleben, Migration Alltag ist. Einst blieben etwa chinesische Seeleute in der Hafenstadt, arbeiteten im Schiffsbau, eröffneten Restaurants und Läden, und die Halbinsel Katendrecht im Rotterdamer Bezirk Feijenoord wurde zur ersten Chinatown auf dem europäischen Festland.

Auf dieser Halbinsel wurde im Mai 2025 das Migrationsmuseum Fenix eröffnet. Fenix ist in einem historischen Lagerhaus der Holland-Amerika-Linie aus dem Jahr 1923 untergebracht. Der am Kai der Nieuwe Maas gelegene und San Francisco Warehouse genannte Hafenspeicher wurde von dem Architekten Cornelis von Goor entworfen und war mit einer Länge von 360 Metern und einer Fläche von 43 200 Quadratmetern der weltweit größte Transshipment-Speicher. Nazi-Truppen zerstörten während des Zweiten Weltkrieges Teile der Kais, und der Hafenspeicher wurde schwer beschädigt. 1948 sorgte ein Brand für weitere Schäden. Doch wie der mythische Phönix stieg das Lagerhaus aus der Asche auf, wurde zweigeteilt wiederaufgebaut und Fenixloods I und Fenixloods II genannt. Aus Fenixloods I wurde inzwischen ein modernes Loftgebäude mit Gastromie im Erdgeschoss.

Fenixloods II wurde 2018 von der Stiftung Droom en Daad (Traum und Tat) erworben und vom Bureau Polderman in Zusammenarbeit mit dem chinesischen Architekturbüro MAD restauriert. Dessen Gründer Ma Yansong entwarf für die Mitte des Museumsbaus eine Treppe in Form einer Doppel-Helix aus poliertem Edelstahl. Diese trägt den Namen »Tornado« und lässt verschiedene Wege zum Dach zu, einschließlich unerwarteter Richtungswechsel und sich verändernder Perspektiven – ein Verweis auf die Wegstrecke, die Migranten zu bewältigen haben. Vom Dach bietet sich ein Blick auf die Wolkenkratzer der Wilhelminakade und das 1901 erbaute Hotel New York am »Kai der Tränen«, von dem seit Jahrhunderten Menschen freiwillig oder gezwungenermaßen die Reise von Europa in die »Neue Welt« antraten.

Einen besseren Ort für ein Migrationsmuseum kann es kaum geben. Niederländische Politiker glänzten durch Abwesenheit, als das Museum im Mai der internationalen Presse vorgestellt wurde. Es ist nicht davon auszugehen, dass etwa der deutsche Innenminister Dobrindt, der sich eifrig als Abschiebeminister betätigt, Pläne hegt, ein Migrationsmuseum zu errichten und dazu noch an einem dafür prädestinierten Ort.

Für die Auseinandersetzung mit Migration als universellem Menschheitsthema setzt man mit 8 400 Quadratmetern Ausstellungsfläche in der Eröffnungsausstellung »All Directions« statt auf Daten, Passagierlisten und Schaubilder auf die bildende Kunst, weswegen Fenix in den Medien gerne als »Kunstmuseum« klassifiziert wird.

Im weitläufigen Foyer gilt es zunächst aber, ein Labyrinth von 2 000 Gepäckstücken zu durchschreiten, vom alten Überseekoffer mit Bugholzbändern und Schleifkappen aus Stahlblech bis zum modernen Trolley aus thermoplastischem Verbundwerkstoff. Eines der dem Museum überlassenen Gepäckstücke gehörte einst einer Willemine. Ihr Enkel Ernst berichtet, seine Oma sei damit 1898 mit ihrem Mann nach China gereist. Als die Ehe scheiterte, reiste Willemine mit ihren vier Kindern mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Irkutsk und weiter nach Moskau. Schließlich aber kehrte sie nach Den Haag zurück und engagierte sich in der Suffragetten-Bewegung, bis diese 1919 das Frauenwahlrecht erkämpfte.

Ebenfalls im Erdgeschoss gezeigt wird die Fotoausstellung »The Family of Migrants«. Mit knapp 200 Fotos, entstanden zwischen 1905 (New York) und 2025 (Syrien), ist die Ausstellung als ein Triptychon angelegt: Abreise, Reise, Ankunft. Nahezu alle Fotos wurden neu und großformatig gedruckt und recht gedrängt ausgestellt. Hier waltet eine Strategie der Überwältigung. Details zu den Fotografinnen und Fotografen sowie zu deren Intentionen sind in Kurzform erst einem zum Mitnehmen ausliegenden Heft zu entnehmen.

Im (kaum unterteilten) ersten Stock werden dann 150 Kunstwerke und Objekte gezeigt, wobei viele davon von Künstlerinnen oder Künstlern stammen, die eine Emigrationsgeschichte haben. Es bedürfte eines Kataloges, sie alle zu würdigen. Unübersehbar ist die begehbare »Bus«-Installation des US-amerikanischen Multimediakünstlers Red Grooms. In Grooms’ Bus aus grobem Stoff sitzt ein multikulturelles Spektrum der Nutzer des öffentlichen Nahverkehrs in New York. Der britisch-nigerianische Künstler Yinka Shonibare CBE, laut Eigenaussage ein »postkolonialer Hybrid«, lässt eine Figur ein Netz mit allerlei Haushaltsgegenständen schleppen. Sein »Refugee Astronaut IX« ist auf dem Weg zu einem neuen Zuhause auf einem sicheren Planeten. Ein wenig versteckt hängt ein Druck auf leicht verformtem Aluminium von Hannah Arendts Text »We Refugees« von 1943 – ein Werk des in Berlin geborenen Künstlers Olaf Metzel.

Der kubanische Künstler Mario Sergio Alvarez hat bei einem Job in Rotterdam alte Küchen ausgebaut, die besten Holzstücke aber behalten und mit Darstellungen von Pflanzen aus einem niederländischen Buch über exotische Pflanzen bemalt. Er wirft die Frage auf, ob er in den Niederlanden wird Fuß fassen können oder dort immer ein Exot bleiben wird. Die in Rotterdam lebende israelische Künstlerin Efrat Zehavi hat dort Fußgängern stets nur eine Frage gestellt: »Wohin gehen Sie?« Oft erklärten die Befragten, woher sie kommen. Bei den sich entwickelnden Gesprächen porträtierte Zehavi insgesamt 116 Menschen vielerlei Nationalitäten in Ton.

Die indische Künstlerin Shilpa Gupta beschäftigt sich seit über zwei Jahrzehnten mit den Auswirkungen von Grenzen und Grenzziehungen durch Staatsapparate. Besonders in Grenzgebieten definieren sich Gesellschaften über weit mehr als als nationale Zugehörigkeit. Im Fenix hat Gupta ein Stahltor installieren lassen, das alle paar Minuten gegen die Museumswand donnert und den Putz aufplatzen lässt. Gupta verweist darauf, dass jedes noch so solide Bewegungshindernis nicht von Dauer ist.

Migrationsmuseum Fenix, Paul Nijghkade 5, NL-3072 AT Rotterdam, https://www.fenix.nl/en/[1]

Links:

  1. https://www.fenix.nl/en/