Welchen Beitrag kann die Politikwissenschaft zu politischen Entscheidungen leisten? Diese Frage stellt sich Herfried Münkler in seinem neuen Buch. Es geht ihm um »Deutschlands Rolle in Europa und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts«. Zunächst beschreibt er die Gegenwart als das Zusammentreffen der Bedrohungen durch Russland mit dem Rückzug der USA aus der atlantischen Verbundenheit. Er stellt sodann die Gefahren für den Industriestandort Deutschland durch China dar, aber auch Bedrohungen durch von Populisten beförderte Zentrifugalkräfte in der EU, den wachsenden Migrationsdruck aus dem Süden sowie die Klimakrise. Der Politologe problematisiert den Stand des freiheitlich demokratischen Rechtsstaats und legt den Finger auf eine von ihm ausgemachte Effizienzwunde – Einspruchsrechte, die wichtige Infrastrukturprojekte bremsen würden. Münkler konstatiert: »Es sind große Herausforderungen und gewaltige Aufgaben, die auf die deutsche Politik zukommen, und es ist alles andere als sicher, dass sie diesen Herausforderungen gewachsen sein wird.«
Die Grenzen Europas behandelt der Politikwissenschaftler als »geopolitische Herausforderung«. Das Offenhalten der Grenzen (»Wir schaffen das«) hat er für notwendig gehalten. Vernachlässigt wurden seiner Ansicht nach aber die hierfür erforderliche Öffentlichkeitsarbeit nach innen und das Einfordern europäischer Solidarität. Das habe zum Erstarken populistischer Parteien beigetragen. Politische Führung hätte gefehlt. Deutschland, in der Mitte Europas gelegen, sei das bevölkerungsreichste und wirtschaftlich stärkste Land des Kontinents und verpflichtet, die politische Führung im Sinne eines »Servant Leaders«, also einer dienenden Führung anzustreben und einzunehmen. Aber nicht allein. Münkler schwebt eine Führungsachse vor: Paris-Berlin-Warschau, ergänzt durch eine Nord-Süd-Achse mit Italien beziehungsweise Spanien und dem Norden, eventuell wieder mit Großbritannien.
Diesem Kerneuropa mit einem innerhalb dieser Gruppe »dienend« führenden Deutschland misst er die Entscheidungsgewalt über die Außen- und Verteidigungspolitik Europas zu. Die kleineren Staaten, die wie etwa Orbáns Ungarn stetig nerven, sollten ihres Vetorechts enthoben und dafür aber »entschädigt« werden mit größerer Duldung ihrer innerstaatlichen Sonderregelungen. Um den europäischen Führungskern und den zweiten Kreis, den in ihrer Vetomacht beschnittenen, vor allem ostmitteleuropäischen Länder sollte sich ein dritter Ring als »abgeflachte« Peripherie gruppieren, zu der Münkler sich die Türkei und Länder des Maghrebs vorstellen kann. Diese Vision in politische Realität umzusetzen, könne nur einer starken Führung gelingen. Der Umbau Europas nach diesem Muster würde die Handlungsfähigkeit der EU stärken, ihre Reaktionsgeschwindigkeit vergrößern und auch Kräfte für eine eigene Rolle in der Weltpolitik freisetzen.
Münkler fragt sich allerdings, ob in Deutschland der Wille und das politische Personal vorhanden seien, die Risiken und Kosten einer solchen Rolle zu tragen. Voraussetzung dafür seien auf jeden Fall wirtschaftliche Erholung und Ausbruch aus dem aktuellen Stillstand. Hierfür hält er eine Entbürokratisierung, den Rückbau der Verrechtlichung selbst kleinster unternehmerischer Entscheidungen und einen kräftigen Investitionsschub in die Infrastruktur für notwendig. Dabei nennt er vor allem Erneuerung und Ausbau der Schiene, um die Transportwege durch die Mitte Europas den Erfordernissen der Zeit anzupassen.
In historischen Rückblicken erinnert Münkler an die Fehler deutscher Politik nach Bismarck, an die Suggestion der »Einkreisung«, die zwei Weltkriege mitverursacht habe und die jetzt larmoyant auch von Russland als Vorwand für dessen Expansionspolitik benutzt würde. Scharf kritisiert Münkler das Liebäugeln einiger politischer Akteurinnen und Akteure in Deutschland und anderswo mit einer erneut stärkeren Hinwendung zu Russland. Derart würden die wichtigsten Werte des »Westens« wie der freiheitlich demokratische Rechtsstaat, die Pressefreiheit und wesentliche persönliche Freiheitsrechte verraten.
Münklers Führungsvision für Deutschland ist sehr wertkonservativ. Während der Lektüre beschleicht einen mitunter die Angst, dass beim Nichtbefolgen seiner Agenda uns Gefahren von apokalyptischen Ausmaßen drohen würden.
Herfried Münkler: Macht im Umbruch. Deutschlands Rolle in Europa und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Rowohlt, 431 S., geb., 30 €.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193603.deutschlands-rolle-dienende-fuehrung.html