nd-aktuell.de / 27.08.2025 / Politik

Die Augenzeugen von Khan Junis

Das angegriffene Al-Nasser-Krankenhaus ist ein allseits bekannter Journalistenstandort

Mirco Keilberth
Die Fotojournalistin Mariam Dagga ist tot, ihre blutverschmierte Kamera bleibt.
Die Fotojournalistin Mariam Dagga ist tot, ihre blutverschmierte Kamera bleibt.

»Ich stand unten am Haupteingang, um die zahlreichen Patienten zu sehen, die nach den Angriffen auf Gaza-Stadt und andere Orte eingeliefert wurden«, berichtet Mohamed Aamer aus Gaza-Stadt am Telefon. Der Kameramann ist wie viele seiner Kollegen für verschiedene TV-Sender und Zeitungen tätig. Bei dem Einschlag einer Rakete in das provisorische Medienzentrum im Al-Nasser Hauptgebäude um zehn Uhr morgens starb am Montag ein Mensch. »Nach dem ersten Angriff eilten Rettungskräfte und einige Kollegen nach oben. Ich blieb zunächst, weil im Erdgeschoss zahlreiche Patienten von Trümmerteilen getroffen worden waren und eine Massenpanik herrschte. Wie wohl alle Journalisten auf dem Gelände hatte ich noch am frühen Morgen dort gestanden, wo das Geschoss einschlug.«

Die weltweite Welle der Empörung hält an. Mit zwei kurz nacheinander ausgeführten Raketenangriffen auf das Al-Nasser-Krankenhaus hat die israelische Armee (IDF) am Montag mindestens 20 Menschen getötet, unter ihnen fünf Journalisten[1]. Das Ziel war ein Bereich im Obergeschoss des in der Stadt Khan Junis liegenden Gebäudekomplexes, der seit 2023 regelmäßig von Journalisten aus dem Gazastreifen genutzt wird. Die schnelle Internetverbindung wird zur Übertragung von Fotos und Videos aus der gesamten Enklave genutzt, das Dach des Nasser-Krankenhauses dient regelmäßig für Live-Interviews von Journalisten vor der Kamera.

Der israelischen Armee ist dieser Ort auch von Korrespondenten verschiedener internationaler Medien bekannt. Daher lässt die Attacke am Montag aus Sicht des Vorsitzenden des palästinensischen Journalistensyndikats nur einen Schluss zu. »Seit dem Beginn der Offensive in Gaza-Stadt werden Journalisten in Gaza und der Westbank nicht nur direkt von der Armee ins Visier genommen«, sagt Tahseen Al-Astall zu »nd« aus Gaza am Telefon. »Ziel ist es auch, die palästinensischen Medien insgesamt zu dämonisieren und sie mundtot zu machen.«

Al-Astall und seine Mitarbeiter dokumentieren die Umstände aller seit dem 7. Oktober 2023 gestorbenen Journalisten. »246 Kolleginnen und Kollegen in Gaza sind tot, entweder wurden sie Opfer gezielter Angriffe oder in der Nähe von Offensiven. Doch jetzt haben die Angriffe eine neue Qualität.«

Zehn Minuten nach der ersten Rakete, als der Rauch verzogen war und sich anrückende Sanitäter und Journalisten durch die Trümmer im Treppenhaus zum Einschlag durchgeschlagen hatten, schlug genau dort ein zweites Geschoss ein. Diese zweite Attacke war live von einem vor dem Gebäude stehenden TV-Team von Al-Gad-TV übertragen und von anderen Journalisten gefilmt worden. Seitdem wurden die Szenen hunderttausendfach auf sozialen Medien geteilt. »Diese Live-Bilder machen es der israelischen Armee zumindest unmöglich, ihre übliche Rechtfertigung, einen Angriff auf Hamas-Terroristen, auszusprechen«, glaubt Journalist Aamer.

Sechs Journalisten verschiedener Medien und mehr als 14 Patienten, Helfer und Besucher starben, im Krankenhaus werden mehr als 100 Verletzte behandelt. Die Explosion der zweiten Rakete war so stark, dass die Notaufnahme und die chirurgische Abteilung zerstört wurden. Ein im Krankenhaus arbeitender Arzt berichtete der britischen BBC von chaotischen Szenen und blutverschmierten Patienten.

Mit blauen Helmen und Splitterschutzwesten klar gekennzeichnete Journalisten und Rettungskräfte in einem zivilen Krankenhaus zu töten, das sticht selbst zwischen den derzeit täglichen Bombardierungen ganzer Wohnblöcke in Gaza-Stadt als besonders perfides Vorgehen heraus.

Benjamin Netanjahu erkannte die Tragweite der gobalen Kritik und sprach von einem Missgeschick. Er schätze die Arbeit von Journalisten sehr, so Israels Premier. Das Pressezentrum der Armee und israelische staatliche Medien kündeten wie nach vorherigen Angriffen eine Untersuchung an. Ziel der beiden israelischen Raketen sei eine auf dem Dach des Gebäudes stehende Überwachungskamera der Hamas gewesen, versuchte ein Armeesprecher das Geschehen zu erklären. Damit hätten Bewegungen der IDF ausgespäht werden sollen. Eine offensichtliche Ausrede, da der Ort seit Langem ein bekannter Treffpunkt palästinensischer Medien ist und überdies durch die täglichen Live-Übertragungen bekannt ist.

Israels Armee und die Regierungskoalition benützen immer seltener die Anwesenheit von Hamas-Kämpfern als Rechtfertigung für Angriffe auf Journalisten. Seit Jahresbeginn laufen regelrechte Kampagnen gegen besonders bekannte und einflussreiche Vertreter der Medien- und Influencer-Szene.

Dem am 10. August zusammen mit drei Kollegen[2] ebenfalls von einer Rakete getöteten Al-Jazeera-Reporter Anas Al-Sharif hatte die Armee vorgeworfen, früher Mitglied einer Hamas-Brigade gewesen zu sein, den Angriff vom 7. Oktober 2023 verherrlicht und für die Hamas Medienarbeit gemacht zu haben. Doch selbst wenn diese bisher nicht im Original dokumentierten Beweisunterlagen stimmen sollten, arbeitete er in den vergangenen Jahren eindeutig als Journalist für einen der größten TV-Sender der Welt. Mit diesem Fakt weisen das US-amerikanische Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ), Reporter ohne Grenzen und andere renommierte Organisationen zum Schutz von Medienfreiheit die israelische Argumentation zurück.

Die IDF hatte Al-Sharif monatelang bedroht und seine gezielte Tötung sogar zugegeben sowie den Tod seiner drei nicht beschuldigten Kollegen in Kauf genommen. Auch den am Montag gestorbenen Journalisten wurde die Nähe zur Hamas und dem islamischen Dschihad vorgeworfen, obwohl sie für Al-Jazeera oder Nachrichtenagenturen wie Associated Press und Reuters im Einsatz waren. Der Angriff auf Al-Sharif und nun seine Kollegen im Nasser-Krankenhaus am vergangenen Montag hat auch unter Israels engen Verbündeten für Entsetzen gesorgt. Wahrscheinlich, weil der Mord an der Medienszene Gazas offenlegt, wie rücksichtslos die israelische Regierung in Gaza insgesamt vorgeht.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193568.gaza-krieg-beim-dokumentieren-bombardiert.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193364.israelische-geheimdiensteinheit-wie-aus-reportern-terroristen-werden.html