Sie kommen aus Syrien, haben in Damaskus gelebt und dort Medienwissenschaften und Theater studiert. Wie erinnern Sie sich an damals?
Ich habe als Regisseur und Schauspieler gearbeitet. Theater und Filme, das ist meine Welt. In Syrien[1] hatte ich hart gearbeitet – am Ende hatte ich in Damaskus sogar eine Bar und ein Café. Doch ich verlor alles durch den Krieg und die Probleme mit der Regierung. Wegen des Krieges bin ich erst in die Türkei abgehauen. Dort habe ich als Radiomoderator und Producer gearbeitet, doch aufgrund unserer Sendungen habe ich Probleme mit dem Islamischen Staat[2] (IS) bekommen und musste wieder fliehen, dieses Mal nach Deutschland.
Wegen der Sendungen hatten Sie Probleme mit dem IS? Sie waren doch in der Türkei, wie konnte Ihnen der IS da Probleme bereiten?
Wir haben in Istanbul eine Radiostation gegründet und sprachen über Politik, Gesellschaft und Kultur, meist mit viel schwarzem Humor und natürlich immer auch über Syrien. Das hatten Leute vom IS mitbekommen und das gefiel ihnen natürlich nicht. Irgendwann wurde es zu gefährlich, auch für mich persönlich. Deshalb habe ich entschieden, nach Deutschland zu fliehen: Griechenland[3], Albanien, Kosovo, Serbien, Ungarn, Österreich – das waren meine Stationen, bis ich dann in Deutschland ankam.
Istanbul ist eine riesige Stadt. Kamen Sie zurecht?
Es war sehr schwer, sich zu finanzieren, aber ich hatte keine andere Wahl. Besonders die ersten sechs, sieben Monate in Istanbul waren extrem schwierig: Ich lebte in einem kleinen Zimmer mit zwei Personen, schlief in einem Sessel wie ein Kind und hatte kein Geld fürs Essen. Oft kaufte ich nur ein Brot und Suppenpulver – das war mein Mittag- und Abendessen. In dieser Zeit habe ich etwa zwölf Kilo abgenommen. Später, als wir eine Gruppe gründeten für das Radio und Workshops mit Kindern, fanden wir einen Sponsor, und ich konnte mein Leben wieder aufbauen.
In Syrien mussten Sie in die Armee. Wie war das?
In Syrien haben wir Wehrpflicht, ca. zwei Jahre lang. Aber wegen meines Studiums und meiner Arbeit konnte ich den Dienst zehn Jahre lang hinauszögern. Damals habe ich mit einem elfköpfigen Team an einem Projekt gearbeitet, wir besuchten über fünf Jahre hinweg rund 150 Städte. Jede Woche arbeiteten wir dort mit etwa 1500 Kindern zu Themen wie Selbstentwicklung und eine eigene Meinung finden, aber wegen meines Armeedienstes musste ich das kündigen. Als ich mit 28 begann, meinen Wehrdienst endlich abzuleisten, hatte ich Pech. Drei Monate bevor er beendet gewesen wäre, begann der Krieg.
Sie haben einen Teil Ihres Armeedienstes während des Krieges abgeleistet?
Ja, das war sehr schlecht. Ich wollte niemandem Gewalt antun, also habe ich nicht geschossen. Ich habe immer »Nein« gesagt. Und so kam ich ins Gefängnis, wo ich ein Jahr einsaß. An meinen letzten 53 Tagen war ich in einer Zelle gefangen, die nur einen Quadratmeter groß war, ich konnte nicht schlafen, ich konnte nicht sitzen, ich musste immer stehen. Das war zu viel, ich wollte nicht mehr.
Wie hat man Sie da wieder rausgelassen?
Irgendwann haben sie mir gesagt, ich hätte nur noch eine Möglichkeit, entweder ich müsse schießen oder sie schießen auf mich. Ich müsse jetzt eine Aufgabe machen und ich habe Okay gesagt. Sobald ich die Möglichkeit hatte, bin ich dann abgehauen, da war ich 31 Jahre alt. Das war am 11. März 2013, als ich Syrien verließ.
Zweimal ist das Leben, das Sie aufgebaut hatten, zusammengebrochen. Was war das für ein Gefühl, immer wieder alles liegen lassen zu müssen und nur mit ein paar Sachen loszugehen?
Das war sehr schwer, aber ich hatte immer ein bisschen Hoffnung: Vielleicht wird es morgen besser, vielleicht kann ich etwas tun, um anderen zu helfen. Während wir in Istanbul unser Radioprojekt betrieben, habe ich mit meiner Freundesgruppe auch dort ein Projekt gegründet: interaktives Theater und Workshops für die geflüchteten Kinder an der türkischen Grenze. Aber auch in der Türkei war es gefährlich, und ich hatte keine richtigen Dokumente, keine Zukunft. In der Türkei galt ich nur als Gast, das war mein offizieller Status. Zwei Jahre habe ich versucht, dort zu leben, aber als die Situation schlimmer wurde, bin ich nach Deutschland gegangen.
Was war die erste Station in Deutschland?
München, dort haben wir mit dem britischen Fernsehen zusammengearbeitet, ein TV-Interview und solche Sachen, wir hatten unsere Flucht aufgenommen und daraus einen Film gemacht.
Sie haben Ihre Flucht gefilmt? Haben die Polizisten nicht an irgendeiner der Grenzen alles beschlagnahmt?
Deswegen war unsere Reise schwieriger als die normale Reise. Die meisten gehen von der Türkei nach Griechenland, Mazedonien und dann weiter. Bei uns ging die Route ab Griechenland über Albanien, Kosovo, Serbien. Wir haben meist nachts an unserem Material gearbeitet. Am Morgen blieben wir in einem kaputten Gebäude oder im Wald. Insgesamt dauerte unsere Reise vom 5. bis zum 23. Mai 2015.
In Deutschland haben Sie gleich wieder mit Ihren Kunstprojekten begonnen. Woher dieser Wille?
Mein erster Schritt hier war, mich zu etablieren, und der beste Weg war für mich die Kunst, vor allem das Theater, um unsere Geschichten zu erzählen. In dieser Zeit habe ich fünf Fotoausstellungen und vier Theaterstücke in Deutschland realisiert. Außerdem arbeitete ich ein Jahr als Theaterlehrer an der Uni Tübingen, im Rahmen des sogenannten Refugee-Programms. Parallel dazu habe ich an der Fachschule für Sozialwesen eine Ausbildung zum Jugend- und Heimerzieher begonnen. Danach habe ich meine berufliche Laufbahn gestartet. Von 2015 bis 2019 war ich im Bereich Kunst, Theater und Film aktiv und habe drei Kurzfilme gemacht. Danach habe ich in einer Kita gearbeitet und seit dem 1. Juli 2023 arbeite ich in einer Jugendhilfeeinrichtung.
Schon in der Asylbewerberunterkunft haben Sie die Arbeit mit Jugendlichen fortgeführt. Wie ging es den Kindern in der Unterkunft?
Schon am ersten Tag im Kinderheim habe ich mit Freunden dort für die Kinder Aktivitäten organisiert. Wir erklärten dem Leiter, was unser Beruf ist, und merkten schnell, dass die Kinder und Jugendlichen dort nichts zu tun hatten und sich langweilten. Zum Beispiel gab es ein einjähriges Workshop-Projekt mit dem Titel »Der kleine Journalist«, das haben wir mit dem Landratsamt Tübingen und der Organisation Kulturgut gemacht. Es richtete sich an geflüchtete Kinder, Kinder mit Migrationsgeschichte und deutsche Kinder und ging um das Thema Kinderrechte.
Was war wichtig, um in diesem Land anzukommen?
Am wichtigsten sind Sicherheit und Sprache. Wenn ein Mensch Sicherheit hat, kann er vieles aufbauen. Unter ständiger Unsicherheit geht das nicht. Danach kommt die Sprache: Sie hilft, die Gesellschaft und die deutsche Mentalität zu verstehen – die ist sehr anders als die arabische. Man muss lernen, andere Meinungen zu akzeptieren und zugleich erwarten, dass die eigene auch respektiert wird. Für mich war es nie ein Problem, wenn Leute viele Fragen stellen. Schwierig war nur, dass es oft mit Vorurteilen verbunden war. Viele waren überrascht und fragten seltsame Dinge: »Habt ihr in Syrien überhaupt Autos? Fernsehen?« Manche konnten kaum glauben, dass ich in Damaskus eine Bar und ein Café hatte und waren schockiert darüber, dass in Syrien auch Alkohol getrunken wird. Aber Syrien ist vielfältig: Es gibt Muslime, Christen, Juden und viele Mentalitäten. Für mich war das normal. Ich konnte immer viel darüber erzählen und erklären – nur nicht jeder hatte die Geduld dafür.