nd-aktuell.de / 28.08.2025 / Kultur

Das Ungeile am Geiz

Die geschenkverpackten Fakten und die getöteten Ideen: Jean-Remy von Matt schreibt über sein Leben als Werber

Frank Jöricke
Bitte als Mensch wahrnehmen: Jean-Remy von Matt auf einer Idee von Sofa
Bitte als Mensch wahrnehmen: Jean-Remy von Matt auf einer Idee von Sofa

Wäre dies ein linkes Flugblatt, würde der Text vielleicht so beginnen: »Der Schweizer Jean-Remy von Matt, Mitbegründer der Werbeagentur Jung von Matt, ist Jahrgang 1952 und einer der besten Lautsprecher des Kapitalismus hierzulande. Mit seinen Slogans und Kampagnen hat er Konzernen und deren Marken (wie Mercedes-Benz, Ebay, Edeka, Sixt, Jever, Ricola und »Bild«) ein positives, frisches Image verpasst und zur Profitsteigerung beigetragen.«

Aber dies ist ein Text auf den Kulturseiten, wo es ästhetisch-subjektiver zugeht. Und ein Werbetexter (der ich von Hause aus bin) würde nie in einer solchen Weise über den Oberguru der Branche schreiben. Und das war er für mich bis zu jenem Aprilabend anno 2006 in Trier, als Jean-Remy von Matt zu Unternehmern sprach. Natürlich wusste er, der Hunderte von Präsentationen vor Firmenchefs und Marketingleitern hinter sich hatte, wie man ein Publikum für sich einnimmt. Zudem verfügt er über reichlich Charisma und jene wohldosierte Portion Arroganz, die noch nicht ins Unsympathische kippt.

Doch dann, bei der anschließenden Fragerunde, geschah das Unerwartete. Der Inhaber eines mittelständischen Betriebes stand auf und schilderte, welch verheerende Auswirkungen von Matts Slogan für die Saturn-Märkte hätten: »Geiz ist geil«[1]. Der Wert von Qualität werde nicht mehr anerkannt. Die Einkäufer hätten jegliche Hemmungen verloren und würden beim Preisdrücken immer unverschämter. In der Folge wären die Margen und Gewinne eingebrochen. Und mit einem Mal verlor der souveräne Jean-Remy von Matt seine Contenance und fing an rumzueiern.

Die Antwort klang ähnlich kleinlaut wie die eines Kindes, das beim Griff ins Bonbonglas ertappt wurde. Vermutlich hätte es ihm nichts ausgemacht, wenn man ihn als »Büttel des Großkapitals« bezeichnet hätte. Doch dass seine ureigene Klientel – jene Firmen, für die er all die originellen Sprüche verfasste – ihm geschäftsschädigendes Verhalten vorwarf, brachte sein Weltbild ins Wanken. Eines der 77 Kapitel seiner kürzlich erschienenen Anekdotensammlung »Am Ende« trägt dann auch den Titel »Das Ungeile am Geiz«.

Jean-Remy von Matt ist also lernfähig und selbstkritisch. Sein »autobiographisches Schlusswort« beginnt er mit den Sätzen: »Wenn von zehn Streichhölzern neun nicht zünden, bin ich verärgert. Mindestens neun von zehn Ideen, die bis heute meinen Weg kreuzten, zündeten genauso wenig – obwohl sie gut oder sogar sehr gut waren. Weil niemand ihren Wert erkannte, niemand den Mut hatte – oder weil sie im Bedenkenmeer ertranken. Dieses Buch erzählt, wie ich als Kreativer trotzdem glücklich wurde.« Wer solches schreibt, der will nicht als Werber-Großkotz wahrgenommen werden, sondern als Mensch. Aber als einer, der sich zu verkaufen weiß.

Drei gescheiterten Ehen einen positiven Dreh zu geben – das muss man erst mal hinbekommen: »Nach meiner Familie bereicherten vier Ehepartnerinnen mein Leben – jede auf ihre Art. Sie machten mir Mut. Sie gaben mir Kraft. Und sie machten ihren Frieden mit meinem Arbeitswahn – wenn auch nicht für immer.« Von Matt präsentiert sich als Großmeister der Wahrheitsinszenierung. Nichts anderes hat er seit seinem 22. Lebensjahr täglich getan. »Ich behaupte, in meinem Beruf nie gelogen zu haben: Wir geschenkverpacken Fakten. Und wenn dabei etwas stört, kommt ein Schleifchen dran.«

Es wimmelt in dem Buch von Schleifchen. Denn Jean-Remy von Matt arbeitete in einer Branche, in der es ziemlich viele störende Fakten gibt. Zahlreiche Kapitel handeln davon, wie Ideen getötet werden. Er ist sich bewusst, dass er, der Kreative, in einer Wirtschaftswelt agiert, in der »ein destruktives, problemorientiertes, blockierendes Denken im kleinen Karo« vorherrscht. Natürlich kennt von Matt auch die Gründe. Er bewegt sich »in einem angstgetriebenen Umfeld. Täglich sterben Ideen dort qualvolle Tode. Mal werden sie von Bedenken erstickt, mal werden sie in Diskussionen zu Grabe getragen oder einfach abgeschossen. Sie werden totgetestet oder geraten in einen Hinterhalt von Killerargumenten.« Unternehmerpersönlichkeiten wie der Autovermieter Erich Sixt[2], der jedes polarisierende Politiker-Werbemotiv mit den Worten »Warum nicht?« durchwinkte, sind da die Ausnahme.

Die Realität der Kundenbeziehungen, die von Matt beschreibt, hat so gar nichts mit dem glamourösen »We are the Champions«-Bild zu tun, das die Werbebranche gern von sich vermittelt. Je intensiver man sich auf dieses Buch einlässt, desto mehr dämmert es einem, dass »Am Ende« eigentlich existenzialistische Literatur ist. Unter den Geschenkverpackungen und Schleifchen verbergen sich düstere Wahrheiten: »Glaube ist wichtig, Liebe noch wichtiger, aber ich finde, dass wir Menschen zu viel Zeit mit Hoffnung verschwenden. Wie oft im Leben hoffen wir, dass etwas wieder besser wird – ein Buch, eine Serie, ein Job, eine Beziehung –, investieren weitere Zeit und werden dann doch enttäuscht.« Deshalb werde sein Buch »mit Absicht von Anfang bis Ende immer schlechter«: eine Jury bewertete alle Kapitel – die besten stehen am Anfang, die schlechtesten am Ende.

Ebenso ergeht es der Fantasiebegabung: »Dieses freie und kühne Denken verkümmert im Lauf der Zeit. Der erste Hemmschuh ist das Schulsystem, gefolgt vom Ernst des Lebens, der Erwartung, ein systemrelevantes Mitglied der Gesellschaft zu sein. Und später behindert uns der Rucksack unserer Erfahrungen, der immer schwerer wird.«

Ja, sein eigenes Berufsleben stellt Jean-Remy von Matt infrage. Bereits im Vorwort gibt er preis, warum er sich seit 2018 lieber mit Konzeptkunst beschäftigt: »Natürlich reizte mich auch der Gedanke, nach fünf Jahrzehnten als kreativer Dienstleister endlich selbstbestimmt über meine Ideen befinden zu können. Allerletzte Instanz zu sein. Unabhängig von Ängsten und Launen der Auftraggebenden. Und unabhängig vom Druck, damit Geld verdienen zu müssen.« Uff. Kritischer hätte es auch ein Kapitalismuskritiker nicht ausdrücken können.

Das Paradoxe daran: »Am Ende« macht dennoch gute Laune. Ernest Hemingway meinte mal über F. Scott Fitzgerald: »Sein Stil singt von Hoffnung, doch seine Botschaft ist Verzweiflung.« Ähnliches gilt für Jean-Remy von Matt. Mit seiner schmissig verfassten Häppchen-Autobiografie – es ist ein Fest, wie er mit Sprache umgeht – gelingt es ihm den Eindruck zu vermitteln, ein richtiges Leben im falschen wäre möglich. Also das, was wir alle tagtäglich versuchen.

Jean-Remy von Matt: Am Ende. Erlebnisse und Erkenntnisse aus meinem kreativen Leben. Econ. 240 S., geb., 25 €.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1063738.friede-du-billiges-wuerstchen.html?sstr=geiz|ist|geil
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/830279.unten-links.html?sstr=erich|sixt