Es gibt nichts Öderes als den Spruch, wonach Fußball[1] ein Spiel sei, bei dem sich 22 Männer um einen Ball streiten, anstatt sich allesamt selbst einen zu kaufen. Auch die Mondscheinsonate besteht nur aus Noten. Und gegen das Lesen ließe sich ins Feld führen, dass ein Buch auch nur aus den immergleichen 36 Buchstaben besteht.
Und doch haben die Fußballfernen ja Recht, wenn sie mal liebevoll, mal ernsthaft irritiert den Kopf schütteln über den heiligen Ernst, mit dem Fußballfans[2] ihre Banalitäten verhandeln. Stundenlang können sie über strittige Abseitsentscheidungen diskutieren, wochenlang über ein vergeigtes Spiel. Und ein Leben lang darüber, dass ihr Verein mit den roten Vereinsfarben anbetungswürdig, der mit den grünen aber eine Ausgeburt der Hölle sei. Kindisch, wie wollte man das wegdiskutieren?
Warum ist man eigentlich Fan von einem Verein? Erfolg mag beispielsweise bei vielen Bayernfans das Einstiegsmotiv gewesen sein, wie es auch jetzt wieder in ganz Deutschland Zwölfjährige gibt, die nach dem Meistertitel 2024[3] in einem Leverkusen-Trikot herumlaufen. Aber die meisten Fußballfans, sofern sie Stadiongänger sind, beschreiben als Erweckungserlebnis dann doch eher das erste Mal im Stadion – die Stimmung, die Energie. Gegen wen das Spiel war? Einerlei. Natürlich, denn wäre es anders, hätten Vereine wie Rot-Weiss Essen[4], die in den vergangenen Jahrzehnten nur selten über die vierte Liga hinausgekommen sind, nicht über 10 000 Zuschauer im Schnitt. RWE hat dafür jede Menge Tradition, auch weil Rahn eben wirklich mal aus dem Hintergrund schießen müsste.
Trägt also der Gegensatz zwischen Tradition und Kommerz als Erklärungsansatz für Fanidentifikaton? Die Frage kann man rational verhandeln und (zurecht) argumentieren, dass nicht nur RB Leipzig[5] am Tropf der Industrie hängt, sondern die ganze Branche. Aber das sind akademische Diskussionen. Was wirklich das Problem an der Red-Bull-Filiale ist, merkt man, wenn man sich bei ihren Spielen die ziemlich leeren Auswärtskurven anschaut. Denn Menschen, die Fußball nur im Fernsehen gucken, leben eine ganz andere Art des Fandaseins als Dauerkarteninhaber. Es lässt sich auf der heimischen Couch genauso ausleben wie auf dem Handy im Portugal-Urlaub. Oder im nagelneuen RB-Trikot vor dem Fernseher, wenn die Mannschaft auswärts spielt.
Man kann aber auch am Spieltag mit wachen Sinnen durch die Stadt gehen: Lens in Nordfrankreich, wo schon an Werktagen aus jedem zweiten Fenster ein Schal hängt, strahlt da etwas ganz anderes aus als Sinsheim, wo man selbst samstags kaum merkt, dass die TSG Hoffenheim[6] hier irgendwo in Autobahnnähe spielt. Lens hat übrigens weniger Einwohner als durchschnittlich zu den Spielen kommen.
Gelsenkirchen, Hamburg, Dresden – unmöglich, dort in der Stadtmitte bei einem Heimspiel nicht zu bemerken, was los ist. Schalke[7], HSV, Dynamo[8] sind – blödes Wort – »Traditionsvereine[9]«, solche, deren Fan man als Vierjähriger wird, weil schon Vater und Opa den Stadionbesuch so selbstverständlich fanden wie Zähneputzen. Solche Standorte sind nicht porentief rein, von Marketingleuten noch nicht vollends glattgebügelt. Man findet noch den »Dreck unterm Fingernagel«, die ranzige Eckkneipe, die am Spieltag aus allen Nähten platzt.
Identifikation? Unbedingt, aber mit dem Stadionerlebnis, den vielen Ritualen, den Kumpels und Kumpelinen, die man nur am Spieltag trifft. Und, ja, es gibt dabei vielleicht auch diese merkwürdige Sehnsucht nach den Dingen, die sich nicht ändern.
Nur Fußballfunktionäre denken, dass das, was passionierte Stadiongänger mit ihrem Verein verbindet, etwas mit den jungen Männern zu tun hat, die dort spielen. Oder mit Tabellenplätzen. Letzteres ist nicht unwichtig, aber wer als Manager richtig Ärger will, setzt einen langjährigen Dauerkarteninhaber in der Sommerpause auf einen anderen Platz als in den Jahren zuvor.
Nicht zu vergessen, dass Identifikation auch dadurch entstehen kann, dass man etwas, wofür ein Verein steht, unterstützenswert findet. Zehntausende Menschen sind in Deutschland im Fußballkontext gesellschaftspolitisch oder sozial engagiert[10]. Nimm einem St.-Pauli-Fan seinen Verein weg – und er muss sich von Grund auf neu erfinden. Als politischer Mensch. Und im doppelten Sinne als soziales Wesen. Kluge Vereinsführungen lassen Fans und Mitgliedern also Luft zum Atmen und Raum, um sich einzubringen. Dann werden sie merken, wie viel Kraft ehrenamtliche Arbeit entwickeln kann, wenn sie wirklich intrinsisch motiviert ist.
Und dennoch: Fan-Tum wird für Menschen, die keinerlei Zugang zu diesem seltsamen Universum haben, letztlich immer ein Mysterium bleiben. Fußballfans zu verstehen, ist undenkbar, ohne dass man Irrationalität mindestens sympathisch, wenn nicht sogar persönlichkeitsbildend findet. Und Irrationalität kann so was von sympathisch sein, wenn die Irrationalen auch noch über sich selbst lachen können.
Und jetzt mal eine Gegenfrage: Was zum Henker schenkt man einem Menschen zum Geburtstag, der bei einem Fußballspiel nur einen Ball und 22 Menschen sieht? Am besten gar nichts. Da trifft es sich gut, dass Fußballfans immer dann, wenn solche Menschen Geburtstag feiern, eh immer schon etwas Besseres vorhaben.