nd-aktuell.de / 01.09.2025 / Berlin

Überstunden: Geschenke für die Chefetage

In Berlin häuften die Beschäftigten im Jahr 2024 30 Millionen unbezahlte Überstunden an

Christian Lelek
Arbeiten bis in die Puppen: Gewerkschaften warnen vor den Plänen der Bundesregierung, das Arbeitszeitgesetz aufzuweichen.
Arbeiten bis in die Puppen: Gewerkschaften warnen vor den Plänen der Bundesregierung, das Arbeitszeitgesetz aufzuweichen.

In die Debatte um längere Arbeitszeiten, ein längeres Arbeitsleben und mangelnde Leistungsbereitschaft passt die Zahl auf den ersten Blick nicht so recht: 54,4 Millionen Überstunden sammelten Berliner Beschäftigte allein im Jahr 2024. Mit 30 Millionen Stunden wurde der überwiegende Anteil der Überstunden nicht bezahlt. Die Zahlen gehen aus dem »Arbeitzeit-Monitor« für Berlin hervor, einer Studie, die das Pestel-Institut im Auftrag der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) Berlin-Brandenburg angefertigt hat.

Doch tatsächlich ist die Entwicklung der Überstunden rückläufig[1]. »Die Zahl der bezahlten Überstunden ist in den letzten 30 Jahren zurückgegangen, vor allem weil in vielen Betrieben Arbeitszeitkonten eingeführt wurden«, sagt Matthias Günther, Leiter des Pestel-Instituts, im Gespräch mit »nd«.

Ein Arbeitszeitkonto, das arbeitsvertraglich oder über Betriebsvereinbarungen mit dem Betriebsrat geregelt wird, sieht eine Regelarbeitszeit für einen bestimmten Zeitraum vor. Innerhalb dieses Zeitraums werden Plus- und Minusstunden miteinander verrechnet. Erst am Ende des Zeitraums wird Bilanz gezogen, ob in Summe Überstunden angefallen sind. Durch dieses Abrücken vom strengen Acht-Stunden-Arbeitstag[2] würden die Arbeitgeber profitieren, da sie nicht mehr für jede Überstunde einen Zuschlag zahlen müssten, sagt der Ökonom Günther. »Und davon profitieren am Ende auch viele Arbeitnehmer durch mehr freie Tage.«

Der »Arbeitszeit-Monitor« hat sich auch die Branchenverteilung der Überstunden angeschaut. Im Zuständigkeitsbereich der NGG, in Berliner Hotels, Gaststätten und Biergärten hätten die Köch*innen, Kellner*innen und Barkeeper*innen im vergangenen Jahr rund 1,4 Millionen Überstunden geleistet. Davon waren 52 Prozent unbezahlt. Dabei zählt das Gastgewerbe zu den Branchen, in denen verhältnismäßig wenig Überstunden anfallen. »In Branchen, die durch relativ viele Minijobs charakterisiert sind, fallen eher weniger Überstunden an«, sagt der Leiter des Pestel-Instituts, Matthias Günther. Minijobs sind durch eine monatliche Gehaltsgrenze von 556 Euro bestimmt, Überstunden sprengen diese Grenze schnell. Zu den Branchen mit einer hohen Minijob-Quote zählen laut Günther die Reinigung und das Gastronomiegewerbe.

Im Gegensatz dazu steht der Bildungsbereich. Wie eine im Juni veröffentlichte Umfrage der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Berlin ergab, leisteten Berliner Lehrkräfte jährlich zwei Millionen Überstunden[3]. Dabei stellen die etwa 37 500 Lehrer*innen nur einen Bruchteil der insgesamt 1,7 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Anders als es die Rechtsprechung vorsieht, wird ihre Arbeitszeit bisher offiziell nicht erfasst. »Der Bereich Erziehung und Unterricht weist einen Spitzenwert aus«, bestätigt Günther. »Pro Arbeitnehmer fallen 9,3 bezahlte und 37,8 unbezahlte Überstunden im Jahr an.«

Neben der Zahl der Überstunden ist auch das Arbeitsvolumen pro Arbeitnehmer*in in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen. Arbeiteten die Deutschen 1992 im Schnitt noch fast 50 Stunden pro Woche, waren es 2024 weniger als 30. Und obwohl diese Zahlen das Gegenteil andeuten, sagt Institutsleiter Günther: »Das kursierende Narrativ von ›Wir arbeiten zu wenig‹ hält einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand.« So befinde sich etwa das Volumen an insgesamt in Deutschland geleisteten Arbeitsstunden auf »Rekordniveau«. Dabei hat die Zahl der Erwerbsfähigen von 1991 bis 2024 laut Pestel-Institut um 600 000 Personen abgenommen.

Im gleichen Zeitraum ist die Erwerbstätigenquote von 68 auf 78 Prozent angestiegen. »Das geht in erster Linie auf einen Anstieg der Erwerbsarbeit von Frauen sowie einen Anstieg der Erwerbsarbeit von Männern und Frauen zwischen 50 und 70 Jahren[4] zurück«, sagt Günther. Die Frauenerwerbsquote lag 1991 bei 57 Prozent, heutzutage steht sie bei 74 Prozent – so hoch wie nie zuvor seit der Wiedervereinigung.

Wie Günther weiter sagt, werde aber »das Potenzial von Frauenarbeit noch nicht voll ausgeschöpft«. Denn das politische Versprechen, die Arbeitswelt und Strukturen der Kinderbetreuung[5] so zu gestalten, dass Familie und Beruf tatsächlich miteinander vereinbar sind, sei nicht eingelöst worden. »So sehen wir«, sagt Günther, »dass die Anzahl der Arbeitsverhältnisse in Teilzeit immer weiter steigt«. Aufgrund vieler Faktoren würden zum allergrößten Teil Frauen in Teilzeit arbeiten, »etwa weil Familien durch den nach wie vor realen Gender-Pay-Gap so ein höheres gemeinsames Einkommen erwarten können«, sagt der Ökonom. 50 Prozent der Frauen arbeiten in Teilzeit. Bei den Männern sind es 13 Prozent.

Unterdessen warnt die NGG angesichts der Regierungspläne auf Bundesebene: »Berlins Überstundenberg dürfte demnächst noch größer werden.« Die Koalition will »die Möglichkeit einer wöchentlichen anstatt einer täglichen Höchstarbeitszeit[6] schaffen«, wie es in der Regierungsvereinbarung von CDU und SPD heißt. In der Spitze könnten dann Arbeitstage mit 12,5 Arbeitsstunden legal werden, wie Sebastian Riesner, Geschäftsführer der NGG Berlin-Brandenburg, sagt.

Riesner warnt: Am Ende einer Deregulierung könnten Arbeitswochen mit bis zu 73,5 Stunden möglich werden, dann nämlich, wenn die EU-Arbeitszeitrichtlinie, auf die sich die Koalition bezieht, zur letzten Haltelinie würde. Ans Abfeiern der Überstunden, die in diesem Szenario en masse anfallen würden, sei angesichts des Fachkräftemangels nicht zu denken.

Gewerkschaftssekretär Riesner appelliert daher an die Berliner Bundestagsabgeordneten, dem »Herumschrauben am Arbeitszeitgesetz einen Riegel vorzuschieben«. Schon jetzt seien flexible Arbeitszeiten im Rahmen des Arbeitszeitgesetzes und durch Tarifverträge, die die NGG abgeschlossen habe, für viele Beschäftigte Alltag. »Noch mehr Flexibilität ist gar nicht nötig«, so Riesner.

Riesner zufolge würden die von Schwarz-Rot angedachten Flexibilisierungsmaßnahmen die Fehlentwicklungen fortschreiben, die Matthias Günther vom Pestel-Institut ausgemacht hat. Denn Familien, so der Gewerkschaftssekretär, bräuchten »planbare und verlässliche Arbeitszeiten«. Er widerspricht somit der Begründung von CDU und SPD im Koalitionsvertrag, wonach mehr Flexibilität »im Sinne einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf« sei. Es sei vor allem zu erwarten, dass die Arbeitgeber die Möglichkeiten ausnutzen würden, meint Riesner. Durch noch längere tägliche Arbeitszeiten werde am Ende aber das Alleinverdienermodell gestärkt. »Anstatt das Fachkräftepotenzial von Frauen zu nutzen, verhinderten XXL-Schichten eine echte Vereinbarkeit von Familie und Beruf«, schreibt die Gewerkschaft.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189979.mehrarbeit-ueberstunden-auf-der-tagesordnung.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191563.wochenarbeitszeit-massiver-angriff-auf-arbeitszeitgesetz-durch-union-und-spd.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191694.bildung-lehrer-in-berlin-ein-schritt-vor-dem-burnout.html
  4. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191566.betreutes-lesen-alter-schuetzt-vor-arbeit-nicht.html
  5. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193148.kita-krise-berliner-kita-erzieher-notstand-als-normalzustand.html
  6. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191616.hans-boeckler-stiftung-argumente-gegen-die-wochenarbeitszeit.html