Ich höre in einem Vortrag des uralten Alexander Kluge: »Zeitrechnung findet nicht immer horizontal statt, chronologisch, sondern manchmal auch vertikal.« Zeitschichten liegen übereinander, nicht nebeneinander.
Und mein Freund der Archäologe sagt: »Historische Schichten gibt es nicht per se. Sie sind von Archäolog*innen im Nachhinein konstruiert, um die Geschichten zu erzählen, die die Geschichte sich selbst erzählen will. Sie geben ebenso viel Aufschluss über die Situation zur Zeit der Geschichtsschreibung wie über die Zeit, die beschrieben wird.«
Ich hänge am Hang. »Lass dich fallen, in den Hang hinein, nicht in den Abgrund. Der Berg ist dein Freund«, sagt D. Ich kralle mich an Grasbüscheln fest, robbe auf allen Vieren an der Steinwand entlang, Erde unter meinen manikürten Fingernägeln. Geradeaus auf der Vertikale kriechen und dabei Geräusche machen, die man nie zuvor sich selbst hat machen hören.
Ich erinnere mich daran, wie ein Freund sagt: »Wenn man den Berg um etwa 180 Grad umdreht, ist er gerade.« Der Gedanke an den Berg als etwas Horizontales, das nur verschoben wurde, beruhigt mich nicht. Stattdessen denke ich an die Vertikalität als etwas Beruhigendes. Kralle mich in die Kette, die man in den Fels geschlagen hat und die steinzeitlichen Schichtungen. Der Berg als historische Akkumulation, Speicher von Zeit. All das ist gelogen. Ich habe an gar nichts gedacht. Außer vielleicht an meine Beerdigung. Pessimismus als Modus Operandi. Und dann an die positive Überraschung, falls es doch bergauf geht und nicht bergab. Grenzerfahrungen machen süchtig.
Wir gehen wie die sieben Zwerge (oder die sieben Geißlein) hintereinander her, F. sitzt auf dem Kamm wie auf einem Pferdesattel und sagt: »Ab hier wird’s leichter, easy.« Jedes Mal ist es eine Lüge. F. ist Optimist. Ein Wanderer kommt uns entgegen, dessen Beine aussehen, als wären sie elastisch. Auf vergnügten Gummibeinen geht er auf schmalem Grat zwischen den Tälern entlang. Er strahlt uns an und behauptet, dass es von nun an weniger steil wird. F., ein paar Meter vor uns, beichtet später, dass er ihn auf uns angesetzt hat, um gute Stimmung zu verbreiten. Meine Beine zittern. T. gibt mir seine Hand. Einmal schiebt D. mich mit seinem ganzen Körper an einer Felswand entlang, weil ich mitten in der Bewegung erstarrt bin.
F. sagt: »Schau, uns gegenüber ist ein Berg, der aussieht wie eine Toblerone. Darüber schwebt eine Wolke, die aussieht wie ein Donut.« Ein Loch im Himmel. Aber nicht das Ozonloch. Der Gedanke an Zucker trägt mich den Berg hinunter. Der Gedanke an kaltes Wasser hat mich heraufgetragen. Die Zivilisation zeigt sich in Form eines Basses, der plötzlich durch den Wald dringt. F. teilt gern. Kein Müsliriegel wird allein verzehrt. Manchmal mache ich mir Sorgen, ob für ihn am Ende etwas übrigbleibt von seinem Proviant, den er in seinem Rucksack hinaufgetragen hat. Den Rucksack von einem anderen Zwerg tragen zu lassen, geht gegen den Bergsteiger*innenstolz. Ich lasse mir dennoch zweimal den klitschnassen Rucksack vom klitschnassen Rücken nehmen, D. trägt ihn am Bauch wie ein Kind.
Es gibt keine Versicherung am Berg. Nichts ist umsonst. Man trägt sich selbst nach oben. Die Gewalten bleiben Gewalten. Die Belohnung ist der Ausblick und manchmal der eiskalte See oder Wasserfall. Dass Wasser tatsächlich Leben bedeutet, war mir nie klarer. Im vorletzten See schwimmen klitzekleine Axolotl, eine Gruppe Teenager kühlt Bier und Wodka neben ihnen. Sie haben Wodkaflaschen 1800 Höhenmeter aufwärts getragen, es hat sich gelohnt.
Übermütig kraulen sie durch den See und springen von den Felsen. Ich stelle mir immer das Schlimmste vor. Wenn Menschen von hohen Steinen in Gewässer springen, wird mir schon vom Zusehen schwindelig. Ich stelle mir vor, wie wir die Bergrettung rufen, und frage mich, wo der Helikopter wohl landen würde. Die Teenager halten sich beim Springen die Hände vor den Schritt, damit es nicht so zwickt. Sie machen Arschbomben und Bauchplatscher. Jedes Mal, wenn sie wieder auftauchen, atme ich erleichtert auf. Ich halte so lange die Luft an wie sie.
Wenn jemand den Stein besetzt, auf dem wir uns am liebsten sonnen würden, sind wir beleidigt. Das ist unser Stein, denken wir dann. Wir sind sowieso am liebsten allein und das ist meistens auch der Fall. Begegnungen sind selten und wenn, dann herzlich. Man spricht über nichts als über Wege, die man zurückgelegt hat. Ein braun gebrannter Local trocknet sein neongelbes Shirt, indem er es an einem Stock aufhängt. Seinen Sonnenhut direkt daneben. Wir sind begeistert und imitieren seine Technik. Er badet seinen ledrigen Körper nackt und hält dabei jeweils eine Bierdose in jeder Hand. Er trinkt abwechselnd aus einer von ihnen.
Alles hier verwunschen, mystisch. Märchenhaft ist es nicht. Nichts ist lieblich oder sentimental. Selbst das Moos ist kratzig. Ich lerne: Die rote Markierung bedeutet, dass man nur zwei Gliedmaßen zur Fortbewegung braucht. Bei den blauen Markierungen braucht man alle vier. Zum Klettern. Ich auch zum Kriechen, von Gasbüschel zu Grasbüschel.
F. findet einen Stock und verwendet ihn als Gehhilfe. Ich denke an das Rätsel der Sphinx: Der Mensch geht als Kind auf allen vier Beinen. Bald auf zweien. Und als Greis auf drei, am Stock. Wir gehen hier manchmal auf sechs.
Meine Mutter sagte immer: »Je schwerer du bist, desto besser. Du musst den Boden beschweren, die Gravitation ausnutzen, Spuren hinterlassen oder zumindest Abdrücke.« Und ich erinnere mich, wie F. sagt: »Der Beginn der Kultur ist da, wo Menschen die Kranken und Verletzten nicht mehr zurückließen, sondern begannen, sie zu pflegen.«
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193724.spass-und-verantwortung-unterwegs-auf-allen-vieren.html