In einem alten Artikel über Elliott Smith heißt es, seine Songs seien voller »Verlierer, Trinker und Geister, die durchs Leben treiben und abstürzen«. Mit Verlaub, Herr Mehldau, wer Ihre Autobiografie gelesen hat, könnte meinen, Sie und Ihr Leben Anfang der 90er Jahre seien damit gemeint.
Hoffentlich war ich nicht ganz so schlimm. Aber es stimmt, damals habe ich schwere Zeiten durchgemacht, hatte Drogenprobleme. 1995 habe ich in Los Angeles neu angefangen. Es war eine produktive Phase; ich habe mit den Drogen aufgehört und meine spätere Frau kennengelernt. Als ich Elliott traf, hab ich gemerkt, dass er in diesem Sumpf noch drinsteckte. Ich konnte ihm das gleich ansehen. Leider kam er nie wirklich aus der Dunkelheit heraus.
Erinnern Sie sich, wann Sie Elliott Smith das erste Mal getroffen haben?
Es muss im »Largo« gewesen sein, wahrscheinlich 1996 oder 1997. Ich war damals neu in Los Angeles und habe diesen Club entdeckt. Elliott ist da zwischen anderen aufgetreten, hat drei, vier Songs gesungen, das dauerte vielleicht 20 Minuten. Er hat seine Songs gespielt, manche im Publikum waren zu Tränen gerührt – und dann ist er einfach wieder gegangen. Er war wirklich sehr fragil, und er hatte so eine besondere Energie, ganz in sich gekehrt. Aber er hat sich wohlgefühlt, es war eine sehr produktive Zeit für ihn.
Haben Sie sich unterhalten?
Nicht wirklich. Es gab eine gegenseitige Wertschätzung, er kannte meine Platten und ich habe ihm gesagt, wie sehr ich seine Musik liebe. Wir haben aber nie eine echte Freundschaft aufgebaut, er war immer sehr zurückgezogen.
Hat seine Musik Sie seitdem begleitet oder haben Sie sie später wiederentdeckt?
Ich habe seine Musik eigentlich immer gehört. Aber dann ist etwas passiert. Ich hatte mein Leben lang immer wieder mit Depressionen zu kämpfen, so wie Elliott wahrscheinlich auch. Ich war lange stabil, aber vor vier Jahren, vielleicht bedingt durch Corona, hatte ich eine schwere depressive Episode. Ein Jahr lang musste ich alles absagen. Als ich da rauskam, habe ich wieder Elliotts Musik gehört – und hatte das Gefühl, ich verstehe sie jetzt noch besser. Auf einem anderen Level. In dem Moment dachte ich: Jetzt könnte ich wirklich etwas damit machen, jetzt, mit 54, ist die Zeit reif. Let’s do this! Bevor mir so etwas noch mal passiert (lacht)
Musik ist zeitlos – sie bewegt uns, wenn wir 20 sind, aber auch im höheren Alter.
Absolut, das gilt für alle Musik: Schubert hat mit 17 manche Lieder geschrieben, in denen so viel Weisheit steckt – wie hat er das gemacht? Auch Neil Young und Jimi Hendrix waren jung, viele Jazz-Musiker … Musik funktioniert nach einer anderen Logik.
Was ist so besonders an Elliott Smith, dass Sie gleich ein ganzes Cover-Album aufgenommen haben?
Was viele seiner Songs so schön macht, sind die Harmonien. Es steckt eine tiefe Harmonik in den Stücken, die man nicht einfach »versüßen« sollte. Ich wollte sie verstärken. Eigentlich wollte ich das ganze Album mit einer Band machen. Aber manche Songs riefen geradezu nach Orchesterbegleitung. Andere habe ich in einem rockigeren Setting mit Chris Thile und Daniel Rossen aufgenommen, wieder andere solo piano.
Chris Thile ist ein bekannter Mandolinist, Daniel Rossen ist Sänger und Gitarrist der experimentellen Rockband Grizzly Bear. Wie kamen Sie auf ihn?
Ich kannte Grizzly Bear, aber ihre Alben haben mich nicht wirklich erreicht. Dann habe ich Daniels Soloalben gehört – da merkt man, dass er sich mit Elliott Smith beschäftigt hat. Er klingt auch so! Die Gitarre ist ganz seltsam gestimmt, und er hat dieses besondere Fingerpicking; eine beinahe aggressive Art. Daniel meinte am Telefon, er sei eher der Studio-Typ und würde eigentlich kaum improvisieren. Ich wusste nicht, ob das funktioniert. Er hat etwas Dunkleres – Chris ist eher offen und fröhlich, das war ein spannender Kontrast. Aber es hat funktioniert.
Im Begleittext des Albums beziehen Sie sich auf Immanuel Kant und schreiben vom Widerspruch zwischen Leben und Tod. In den Songs von Elliott Smith würden beide miteinander tanzen.
In der Ästhetik unterscheidet Kant zwischen Schönheit und Erhabenem. Schönheit ist das, was uns willkommen heißt, warm, mütterlich, lebensbejahend. Das Erhabene dagegen ist dunkel, gefährlich, mit Angst verbunden. Und trotzdem zieht uns das an, auch in der Musik. Dieses Spiel aus Schönheit und Erhabenem spürt man bei Elliott sehr. Oder auch bei Radioheads Thom Yorke, das hat gerade in den 90ern viele angesprochen. Weil du spürst, dass er an einem Abgrund steht. Das gibt es auch in späten Schubert-Sonaten, bei Wagners »Liebestod«, einfach überall. Es gibt Leute, die dieses Dunkle brauchen. Das hat durchaus eine universelle Anziehungskraft.
Auch der Titel des Albums, »Ride Into the Sun«, transportiert diese Doppeldeutigkeit: da steckt eine Cowboy-Romantik drin, aber auch etwas Düsteres. Wie kamen Sie darauf?
Das ist ein Zitat aus Elliotts »Colorbars«. In dem Song singt er »Everybody wants me to ride into the sun«. Man weiß nicht, meint er das ironisch? Oder trotzig – ist das eigentlich ein »fuck you all«? Ist die Sonne ein Symbol für den Tod, dem man sich nähert? Diese Mehrdeutigkeit fand ich spannend.
Der Song »Ride Into the Sun« ist einer der wenigen Songs, die von Ihnen komponiert wurden. Warum gehört der auf das Album?
Es ist mein eigenes Thema. Es taucht an verschiedenen Stellen im Orchester auf, damit es wie ein Zyklus wirkt. Da bin ich von westlicher klassischer Musik beeinflusst. Ob Brahms oder Beethoven, die haben Motive, die immer wiederkehren. Sie wirken über die gesamte Dauer eines Abends auf dich ein.
Chris Thile sagt über Sie, es gäbe keinen, bei dem der Weg eines Gedanken bis zur musikalischen Ausführung so frei sei.
Wie nett von ihm! Ich hatte immer schon diese Fähigkeit, in diesen Flow-Zustand zu kommen, wo Ideen einfach fließen. Andere Dinge musste ich mir hart erarbeiten, aber das fiel mir immer leicht. Ich habe selbst Bach und Fauré aufgenommen, bin dabei aber nie so entspannt wie beim Improvisieren. Klassische Pianisten wie Víkingur Ólafsson haben das Talent, ein Stück zu verinnerlichen und dann in höchster Konzentration fehlerfrei zu spielen. Das werde ich nie können. Die sind völlig locker – und es ist trotzdem perfekt. Da bin ich schon ein bisschen neidisch. Aber das ist nicht mein Talent.
Brad Mehldau: Ride into the Sun (Nonesuch)
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193829.musik-brad-mehltau-liebestod-und-fuck-you-all.html