Wer Playa Renaciente betritt, merkt sofort, dass hier eine ›unsichtbare Grenze‹ beginnt. Die asphaltierte Straße des Viertels Puerto Maillarino mit den zweistöckigen Backsteinbauten weicht einer staubigen, unebenen Piste. Ein improvisierter Begrenzungszaun heißt die Besucher mit verblassten gelben Lettern willkommen: »Bienvenidos a Playa Renaciente«. Der drei Meter hohe Schutzdamm, mit Gras bewachsen, markiert die Einfahrt in das Viertel, in dem 200 Afro-Familien wohnen, insgesamt 950 Personen. Genauer gesagt war es mal ein Stadtviertel, doch die lokale Verwaltung hat im Jahr 2000 die Stadtgrenze neu definiert und Playa Renaciente zu ländlichem Gebiet erklärt. Seitdem ist es als Dorf »Cauquita – La Playa« eingetragen und gehört zum Landkreis Navarro. Ein Schachzug, um die Ansiedlungen hinter dem Damm als illegale Landnahmen deklarieren zu können. Doch die meisten Grundstücke verfügen über einen Grundbucheintrag und sind ans städtische Wasser- und Stromnetz angeschlossen, die Eigentümer bezahlen Grundsteuer.
Playa Renaciente ist älter als die meisten Viertel der relativ jungen Stadt. Davon zeugen die Schwarz-Weiß-Fotos an den Wänden des Hauses des Gemeinderates. Die unterschiedlichen Anlegestellen am Fluss wurden benutzt, um Versklavte aus Cartagena nach Cali und Popayán zu bringen und diese in Goldbergwerken oder Plantagen schuften zu lassen. Playa Renaciente war einer dieser Anleger und hieß damals Puerto España, Hafen von Spanien. »Die meisten unserer Vorfahren stammen von der Hacienda La Candelaria und haben sich nach ihrer Flucht und nach der Abschaffung der Sklaverei 1851 hier niedergelassen«, sagt Jorge Ballecilla, der Historiker der Gemeinde. Er spricht mit tiefer Stimme und zeigt auf die Fotos, die teilweise aus seinem eigenen Archiv stammen. Er könne sich noch erinnern, wie seine Gemeinde einer der wichtigsten Warenumschlagplätze der Stadt war. 1920 sei dann die erste Brücke über den Cauca-Fluss gebaut worden. Heutzutage ragt die Stahlkonstruktion der neuen Brücke in unmittelbarer Sichtweite über die Dächer der einfachen Häuser.
Juan Camilo Tovar Amir, eines der jüngeren Mitglieder im Gemeinderat, erklärt, warum der eigene Blick auf die Geschichte so wichtig sei: »Das schafft Identität und eine spirituelle Verbindung zum Territorium.« Im Verlauf des urbanen Wachstums und der internen Vertreibung seien weitere Familien aus dem Pazifik hergezogen, die ihre Bräuche und ihr Wissen mitgebracht hätten. Sie hätten die gleiche Bindung an die Flüsse, weil diese ihren Lebensraum und Lebensunterhalt zugleich darstellten. »Bei uns gibt es alles, was du auch am Pazifik findest, spirituelle Gesänge und Bittgebete, die Küche, traditionelle Hebammen und Medizin«, sagt er. Playa Renaciente könnte man auch als Mikrokosmos des urbanen Pazifiks bezeichnen.
Erinnerungsarbeit ist in Kolumbien in der Tat ein politisches Kampffeld. Die Sklaverei wird in Geschichtsbüchern und in der Schule kaum erzählt, es gibt keine Erinnerungsorte, außer in Cartagena und San Basilio de Palenque an der Karibik – physische Orte des Gedenkens wurden ausgelöscht. Die eigene Geschichte und Herkunft haben die Afro-Gemeinde politisiert und jener bewusst gemacht, dass sie ethnisch-territoriale Sonderrechte hat. Bereits 1946 organisierten sich die Arbeiter, die Sand aus dem Fluss schaufelten, in einer Kooperative. Das bereitete den Weg zur offiziellen Baugenehmigung von Häusern und Anbindung an die städtische Infrastruktur, auch wenn schon lange zuvor eine Ansiedlung existiert hatte.
Erinnerungsarbeit ist in Kolumbien ein politisches Kampffeld.
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In den 90er Jahren erfuhr das Organisierungsniveau einen qualitativen Sprung. Der landesweit aufgestellte Proceso de Comunidades Negras (PCN) beriet das Nachbarschaftskomitee in politischen und juristischen Fragen. Zwischen 1998 und 1999 reifte die Idee, einen Consejo Comunitario zu gründen. Diese juristische Figur im Gesetz 70 von 1993 soll garantieren, schwarze Gemeinschaften und ihre Territorien zu schützen, um das Überleben ihrer angestammten Lebensweisen zu sichern, die zur Kultur und zum Lebensunterhalt beitragen. Das Gesetz war eigentlich für Afro-Gebiete an der Pazifikküste gedacht. Doch Migrationsbewegungen und historisch konsolidierte Afro-Siedlungen im Inland haben dazu geführt, dass weitere Gemeinden ihre rechtliche, territoriale und kulturelle Anerkennung durchsetzten. Die Kolumbianer*innen hatten von Brasilien gelernt. Dort erreichten die sogenannten Quilombos, Siedlungen von befreiten Versklavten, ihre rechtliche und kulturelle Anerkennung in der Verfassung von 1988. Licenia Salazar, die zu afrokolumbianischen Themen forscht, spricht von über 400 Consejos Comunitarios in Kolumbien.
»Nach langem Atem wurde schließlich 2007 der Consejo Comunitario Ancestral de Negritudes La Playa Renaciente vom Innenministerium anerkannt«, erzählt Jorge stolz. Ihr Territorium wurde neu getauft, denn »Renaciente« heißt so viel wie Wiedergeborene, eine Anspielung auf das Erwachen eines politischen und ethnischen Bewusstseins, eine Art Wiedergeburt als kollektives Subjekt.
Alle Mitglieder des Consejos tragen an diesem Tag dasselbe hellblaue T-Shirt. In dunkelbraunen Lettern steht darauf geschrieben: »Erinnerungen des Cauca-Flusses und ihre Stimmen des Widerstands«. Es handelt sich dabei um ein Fotografie- und Ausstellungsprojekt mit dem modernen Kunstmuseum La Tertulia in Cali. Adeleida Mosquera präsentiert stolz ihr Foto, auf dem sie in einem pinken Kleid auf einem Boot Richtung Fluss schaut. »Ich mache da ein Ritual zu Ehren der Göttin Oshún, der Göttin des Süßwassers und des Reichtums«, erklärt sie. Ihre Freundin Edith Díaz, die ebenfalls wie Adeleida Teil des Consejos ist, zeigt ebenfalls ihr Foto. Sie ist beim Bemalen einer Marienstatue zu sehen, die zu Mariä Himmelfahrt auf Holzflößen mit Musik über den Fluss geschippert wird. So gehen Yoruba-Religion und Katholizismus ganz ohne Probleme zusammen.
Der Consejo kann im Moment Verbündete gebrauchen, sei es im Jenseits oder im Diesseits. Juan Camilo gibt selbstkritisch zu, dass sie zu lange für sich allein gekämpft hätten. Da kam es gerade recht, dass die Vizepräsidentin Francia Márquez dieses Jahr zum Flussumzug auftauchte, umringt von einem Dutzend schwerbewaffneter Leibwächter. Denn die Gemeinde ist im Widerstand gegen ein gigantisches Bauprojekt und Umsiedlungsprogramm der Stadtverwaltung, den Plan Jarillón. Einige Häuser wurden bereits demoliert und die Schuttberge zurückgelassen. Jedes Haus ist mit einer vierstelligen Nummer versehen, eine Markierung der Behörde für Risikoprävention. Playa Renaciente wurde zum Hochrisikogebiet für Hochwasser erklärt, weil es jenseits des Schutzdammes liege.
Die Projektbetreiber werben für ihr Projekt mit Bedrohungsszenarien: Bei Übertreten des Cauca-Flusses über seine Ufer und einem Dammbruch könnten zehn der 21 Kommunen unter Wasser stehen, 900 000 Menschen wären betroffen. Nach drei Tagen Hochwasser würde die Stadt um 25 Jahre in ihrer Entwicklung zurückgeworfen. Da kann keiner Nein sagen. Noch weniger, wenn man die hübschen Broschüren des Projekts liest. Denn es soll ein 26 Kilometer langer, linearer Park auf dem Damm entstehen, ein öffentlicher Raum für Natur, Sport, Erholung und Begegnung. Es sei das wichtigste Projekt des Plan Jarillón und »lädt Einwohner und Besucher von Cali dazu ein, durch eine neue touristische Route zu Land und zu Wasser entlang des Flussufers des Cauca die Verbindung zur Natur zu suchen«, so die Website der Stadtverwaltung.
Bis 2019 sollten die 8000 Familien, die auf und hinter dem Deich lebten, umgesiedelt werden. Es gab zwei Angebote der Entschädigung: entweder eine mit günstigen Krediten finanzierte Sozialwohnung oder einen finanziellen Ausgleich. Obwohl die Frist längst abgelaufen ist, leben laut Stadtverwaltung weiterhin etwa 10 000 Menschen auf den Weiden des Damms in Häusern aus Zink, Holz, Ziegeln, Lehmziegeln und recycelten Materialien, also im Risikogebiet. Aufgrund der Verzögerungen und des Finanzierungsdrucks kommt es immer wieder zu Gewaltanwendungen gegen Personen, die ihre Häuser nicht räumen wollen. Viele Familien warten auch zehn Jahre nach der Demolierung ihrer Häuser auf Entschädigung.
Playa Renaciente versetzt dies in Alarmbereitschaft. Einerseits fühlten sich die Bewohner*innen nicht vom Hochwasser bedroht, so Juan Camilo. Sie hätten sich an die Überschwemmungen im Laufe ihres Lebens gewöhnt, zumal es immer seltener vorkomme, dass der Fluss über seine Ufer trete; das letzte Mal vor vier Jahren. Andererseits seien sie nicht einverstanden mit der individuellen Umsiedlung in urbane Problemviertel. Das würde ihre seit Jahrhunderten gewachsene Gemeinschaft auseinanderreißen. Bisher habe ihnen die Stadtverwaltung kein geeignetes Terrain anbieten können, das ihre Verbindung zum Wasser aufrechterhalten könnte. »Wenn verhandeln, dann nur kollektiv«, gibt sich Juan Camilo entschlossen. Just zu Beginn des Plan Jarillón vor zehn Jahren gewann die Gemeinde einen juristischen Streit, der die Stadt dazu verpflichtet, sie bei Infrastrukturprojekten zu konsultieren. Dieses Recht ist im erwähnten Gesetz von 1993 festgeschrieben, um ihre kulturelle und soziale Integrität zu schützen.
Im Juni 2008 beantragte Playa Renaciente beim Innen- und Justizministerium sogar einen kollektiven Landtitel, der sich derzeit in Bearbeitung befindet. Derartige Landtitel existieren nicht nur in Kolumbien, sondern ebenso in Ecuador, Bolivien, Brasilien, Honduras und Nicaragua. Gleichwohl ist Kolumbien das Land mit der größten Fläche an rechtlich anerkannten Afro-Gebieten und spielt somit eine Vorreiterrolle. Laut Salazar gibt es 230 Consejos mit Kollektivbesitz und weitere 200 mit einem Antrag bei der Nationalen Agentur zur Landvergabe. Die Gemeinsamkeit der afrolateinamerikanischen und -karibischen Bewegung sieht sie hingegen im Kampf um die Bürgerrechte und ihre vollständige Anerkennung als Staatsbürger. In den USA nahm später dieser Kampf im Sinne des meritokratischen Prinzips das Streben nach der ökonomischen Integration an. Kolumbien ist da anders. Salazars Traum ist es, die verschiedenen Afro-Vertretungen auf nationaler Ebene, Consejos Comunitarios und schwarze politische Repräsentanten im Parlament zu einer gemeinsamen Artikulation zusammenzufassen, der Sozialen Afrokolumbianischen Bewegung, MSA. Das könnte für die Zukunft von Playa Renaciente von entscheidender Bedeutung sein.