Mit Gerhard Schröder will die SPD spätestens seit Beginn der russischen Großinvasion der Ukraine nichts mehr zu tun haben. Mit dem Parteiausschluss hat es zwar nicht geklappt, aber man meidet den Altkanzler. Seine unverbrüchliche Freundschaft zu Russlands Staatschef Wladimir Putin und seine Tätigkeit für russische Energiekonzerne nach seinem Ausscheiden aus der Politik sind den Sozialdemokraten peinlich.
Nun aber hat sich der aktuelle Ko-Vorsitzende der SPD und Vizekanzler Lars Klingbeil doch mal wieder ein Lob für denjenigen abgerungen, dessen Namen man in der Partei sonst nicht mehr nennen darf. Und zwar wegen seiner antisozialen »Leistungen«. Denn zu Hartz IV und Co. will die schwarz-rote Bundesregierung faktisch in vollem Umfang zurückkehren.[1] Zumindest in jenem Ausmaß, das nach der Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Leistungskürzungen gegen Bezieher des Arbeitslosengeldes II alias Hartz IV von 2019 noch möglich ist.
Klingbeil nahm dieser Tage ausdrücklich Bezug auf die Agenda 2010 der einstigen rot-grünen Bundesregierung und lobte den Altkanzler: »Schröder hat mutige Reformen angepackt.« Auch heute seien umfassende Reformen nötig, »damit unser Sozialstaat stark, aber auch bezahlbar bleibt und besser funktioniert«, sagte der Bundesfinanzminister der »Zeit«. Es seien zwar wie unter Schröder Veränderungen nötig, sie müssten aber »in unsere Zeit passen« und dürften die »Gräben nicht vertiefen«.
»Auch heute brauchen wir umfassende Reformen, damit unser Sozialstaat stark, aber auch bezahlbar bleibt und besser funktioniert.«
Lars Klingbeil SPD-Ko-Vorsitzender und Vizekanzler
Schröder zeigte sich erkenntlich und attestierte Klingbeil ebenfalls Mut. Der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« sagte der 81-Jährige, der SPD gehe es nicht gut, wenn das Land »in Unordnung« sei. Sie habe hoffentlich gemerkt, dass sich mutige Reformen auszahlten, auch wenn sie zunächst unpopulär erschienen.
Anfang der Nullerjahre hatte Schröder die Sozialdemokratie zusammen mit dem damaligen britischen Premier Tony Blair auf einen neoliberalen Kurs gebracht. Im März 2003 hatte der damalige Kanzler den tiefgreifendsten Sozialabbau in der Geschichte der Bundesrepublik in Angriff genommen. Begründet hatte er das mit den hohen Arbeitslosenzahlen, die nach der Einführung von Hartz IV und Co. tatsächlich sanken. Den Grund sehen Forschende aber eher im internationalen ökonomischen Konjunkturumfeld als in den Maßnahmen.
Rot-Grün brachte damals allerdings auch nie dagewesene Steuergeschenke an Unternehmen und Vermögende auf den Weg, unter anderem die massive Senkung des Spitzensteuersatzes von einst 53 auf 42 Prozent. Auch die Rente mit 67 und weitere Verschlechterungen für Ruheständler sind das Werk der beiden Schröder-Regierungen von 1998 bis 2005.
Auf all das beziehen sich auch CDU und CSU immer wieder positiv. Und SPD wie Grüne hatten sich schon in der Ampel-Koalition von ihrer Wende hin zu wertschätzendem Umgang mit Erwerbslosen verabschiedet. Die hatte ohnehin hauptsächlich in der Umbenennung von ALG II in Bürgergeld, aber auch einer weniger harten Sanktionierung von nicht vollständig kooperierenden Personen bestanden.
Bundessozialministerin Bärbel Bas (SPD) hatte schon vor dem jüngsten Schlagabtausch mit Kanzler Merz angekündigt, wieder Leistungskürzungen für Bürgergeldbeziehende ab dem ersten Versäumnis einzuführen. Zudem soll es nach ihren Angaben 2026 eine Nullrunde beim Bürgergeld geben, angesichts der Inflation faktisch eine Kürzung. Am Montag nahm die von Bas berufene sogenannte Sozialstaatskommission ihre Arbeit auf, die bei etlichen Sozialleistungen nach Sparpotenzialen schauen soll.
Kanzleramtsminister Thorsten Frei drängte in Sachen Bürgergeldreform derweil nochmals aufs Tempo. »Die Bundesarbeitsministerin wird in den nächsten Tagen einen Vorschlag unterbreiten. Mit dem werden wir dann arbeiten«, kündigte der CDU-Politiker gegenüber der »Rheinischen Post« (Freitag) an. Er behauptete erneut, die von Merz angepeilten Einsparungen von fünf Milliarden Euro jährlich in diesem Bereich seien »sehr realistisch«. Die neue Grundsicherung, die an die Stelle des Bürgergeld treten soll, habe »andere Karenzzeiten, andere Zumutbarkeitsregeln, da gilt wieder der Vermittlungsvorrang«, erklärte er. Vermittlungsvorrang meint, dass Erwerbslose auch Jobangebote weit unter ihrer Qualifikation nicht mehr ablehnen dürfen.
Generell werden Union und SPD im vom Kanzler angekündigten »Herbst der Reformen« nicht gegeneinander arbeiten. Verbale Abgrenzungsmanöver der Sozialdemokraten wie jenes von Bärbel Bas dürften wohl eher dem Kommunalwahlkampf in Nordrhein-Westfalen geschuldet sein. Bas hatte die Aussage von Merz, der Sozialstaat in seiner heutigen Form sei nicht mehr finanzierbar, »Bullshit« genannt.
Klar ist, dass auch die rigidesten Kürzungen im Sozialbereich nicht ansatzweise die im Bundeshaushalt klaffenden Löcher spätestens ab dem Jahr 2027 im Umfang von 30 Milliarden Euro stopfen können. Denn die Megakredite für Aufrüstung und Infrastruktur treiben die Staatsausgaben auch durch enorme Zinszahlungen in die Höhe.
Das Streichen von einzelnen Milliarden bei humanitärer und Entwicklungshilfe bringt ebenfalls wenig. Stattdessen drohen die Finanzierungslücken durch zusätzliche Steuergeschenke wie die schon zum Jahreswechsel geplante Erhöhung der Pendlerpauschale und die dauerhafte Absenkung der Mehrwertsteuer im Gastgewerbe weiter zu wachsen.
Die Abschaffung der Ausnahmen von der Erbschaftssteuer vor allem für große Erbschaften wie auch die Wiedereinführung der Vermögensteuer stehen unter CDU-Führung überhaupt nicht zur Debatte. Sie lehnt unter Berufung auf den Koalitionsvertrag jegliche Steuererhöhungen ab, auch solche bei den Superreichen.
Finanzminister Klingbeil hatte höhere Abgaben für Spitzenverdiener und Vermögende nicht ausgeschlossen. Selbst der Vorsitzende der Christlich Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), Dennis Radtke, sprach sich für Nachschärfungen bei der Erbschaftsteuer und für eine Anhebung der Reichensteuer aus, die mit 45 Prozent über dem Spitzensteuersatz von 42 Prozent liegt.
In diese Richtung gingen auch Vorschläge von SPD-Fraktionschef Matthias Miersch. »Wenn wir die mittleren Einkommen entlasten wollen und vielleicht sogar den Spitzensteuersatz später beginnen lassen wollen, dann muss man sagen, wie man das finanziert. Und dann müssen die, die eben ganz, ganz viel haben, unter Umständen auch mehr zur Kasse gebeten werden«, sagte er im Podcast des Nachrichtenportals Politico.
Widerspruch zum Kurs beim Bürgergeld kommt derweil von Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte. Wenn der Kanzler hier Einsparungen von fünf Milliarden Euro ankündige, streue er den Menschen Sand in die Augen und führe eine Stellvertreterdiskussion, der SPD-Politiker im Deutschlandfunk. Er wies darauf hin, dass das Bürgergeld nur vier Prozent des Sozialetats ausmacht. In welchen Bereichen weitere 25 Milliarden Euro eingespart werden sollten, um das Haushaltsloch zu stopfen, dazu höre man aus der Union kein Wort, kritisierte Bovenschulte. Würde man beispielsweise ernsthaft die Steuerhinterziehung bekämpfen, könnte man von ganz anderen Beträgen sprechen.
SPD-Generalsekretär Tim Klüssendorf forderte derweil sogar Mehrausgaben im Bürgergeldbereich. Nötig seien höhere Beträge für Qualifizierungs- und Eingliederungsmaßnahmen, um Arbeitslose besser in Jobs vermitteln zu können, sagte Klüssendorf im Deutschlandfunk. Im vergangenen Jahr wurden in diesem Bereich 3,8 Milliarden Euro ausgegeben.
Klüssendorf äußerte sich zugleich zuversichtlich, dass die schwarz-rote Koalition lange aufgestaute Sozialreformen umsetzen werde und den Sozialstaat »zukunftsfest« machen werde. Als Beispiel nannte er den von der Union viel gerügten Vorschlag von Arbeitsministerin Bas, dass auch Beamte und Selbstständige in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen sollten.