Hundert Tage nach seiner Vereidigung als Präsident Anfang Juni gibt sich Lee Jae-myung als Mann des Dialogs und der sozialen Fürsorge. Außenpolitisch setzte er gleich zu Beginn seiner Amtszeit ein Zeichen. Mit der Formel »Kein Frieden ist zu teuer, er ist immer besser als Krieg« will Lee den eingefrorenen Dialog mit Nordkorea wiederaufnehmen. Innenpolitisch ergriff er erste sozialpolitische Maßnahmen wie die Einführung sogenannter Verbrauchergutscheine. Diese Geldgutschriften sind Teil eines Konjunkturpakets, das den privaten Konsum ankurbeln und ein Zeichen dafür setzen soll, dass die Regierung die Sorgen der Bürger*innen in Zeiten steigender Lebenshaltungskosten ernst nimmt.
Dennoch bleibt Südkorea gezeichnet von politischer Unruhe. Nach dem Putschversuch von Lees Amtsvorgänger, Yoon Suk-yeol, der das von der Opposition dominierte Parlament durch die Verhängung des Kriegsrechts suspendieren wollte[1], um allein regieren zu können, bleiben die politischen Verhältnisse auch nach der Neuwahl fragil. Zwar gewann Lee diese als Kandidat der Demokratischen Partei mit einem komfortablen Vorsprung vor seinem größten Konkurrenten, doch verfehlte er mit 49 Prozent knapp die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Vor allem der Osten des Landes steht weiterhin fest zur konservativen Partei des gestürzten Yoon.
Um die gesellschaftlichen Verhältnisse im Land zu verstehen, muss man indes hinter die tagesaktuellen Meldungen der Nachrichtenagenturen blicken. Denn schon eine morgendliche U-Bahnfahrt in Seoul verrät viel über die soziale Wirklichkeit. Dort, wo die Wagen überfüllt sind und die Luft nach Kaffee und Sommerregen riecht, kann man beispielsweise sehen, wie ein älterer Mann eine junge Frau zur Seite stößt und sich auf den rosafarbenen Sitz fallen lässt, der eigentlich Schwangeren vorbehalten ist – und niemand etwas sagt. Oder wie eine junge Angestellte lieber stehen bleibt, obwohl sie nach einer Zwölfstunden-Nachtschicht kaum noch die Augen offenhalten kann – aus Angst, sie könnte »respektlos gegenüber Älteren« wirken.
Derartige Szenen lassen sich regelmäßig beobachten. Sie sind Teil einer unausgesprochenen Regel: Respekt wird hierarchisch verteilt, nach Alter und Geschlecht. In diesen Alltagsmomenten wird der lange Schatten des Konfuzianismus sichtbar – und damit auch der Grund dafür, warum politische Reformen oft an unsichtbaren Mauern aus Tradition und patriarchaler Selbstverständlichkeit abprallen.
Dabei ist die Gleichstellung der Geschlechter seit Jahrzehnten gesetzlich verankert: Diskriminierung ist verboten, gleiche Bezahlung garantiert, Mutterschutz geregelt. Doch ganz offensichtlich reichen Gesetze allein noch nicht für echten gesellschaftlichen Wandel. Denn die patriarchale Tradition wirkt bis heute nach: Im Arbeitsleben zählt Gehorsam mehr als Kritik, in Familien tragen Frauen weiterhin den Großteil der Sorge- und Pflegearbeit, und im Alltag ordnen sich viele lieber den gesellschaftlichen Erwartungen unter, anstatt ihre eigenen Bedürfnisse zu verfolg
Solche kulturellen Muster geben Orientierung in einem Land, in dem Abweichungen von einer vorgegebenen, über Traditionen definierten Norm extrem unpopulär sind; zugleich aber schränken sie die individuellen Freiräume massiv ein. Das bedeutet für Frauen, aber auch für sozial marginalisierte Minderheiten, dass jeder Schritt in Richtung tatsächlicher Gleichstellung eine doppelte Anstrengung verlangt: nämlich die Auseinandersetzung mit rechtlichen Barrieren und mit den tief verinnerlichten Regeln des Zusammenlebens.
Seit dem Ende des Korea-Krieges im Jahr 1953 hat das Land eine Entwicklung erlebt, die zu den spektakulärsten Modernisierungsgeschichten weltweit gehört. Aus den Ruinen des Krieges entstand eine exportorientierte Industrienation, die heute zu den technologischen Spitzenmächten zählt. Mit Samsung, Hyundai oder LG stehen Konzerne an der Weltspitze, die noch in den 1960er Jahren kaum jemand kannte. Beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt das 52-Millionen-Einwohner-Land weltweit auf Platz zwölf[2].
Doch in dieser rasanten Entwicklung liegt zugleich ein tiefer Widerspruch. Wirtschaftswachstum und technologischer Fortschritt stehen für das Bild einer modernen Nation, aber im Alltag stoßen viele Menschen an Grenzen, die das Tempo des gesellschaftlichen Wandels bremsen. Da Südkorea abrupt in die Moderne katapultiert wurde, treten die Brüche zwischen formaler Gleichstellung, ökonomischem Aufstieg und gelebter Alltagsrealität heute deutlicher zutage als je zuvor. Dieses Spannungsverhältnis zeigt sich insbesondere an der demografischen Entwicklung. Mit einer Geburtenrate von zuletzt 0,72 Kindern pro Frau hat Südkorea weltweit den niedrigsten Wert erreicht. Selbst in Deutschland liegt sie mit 1,35 Kindern pro Frau annähernd doppelt so hoch. Die Folgen dieses demografischen Wandels sind enorm.
Die Gründe hierfür liegen nicht allein in hohen Lebenserhaltungskosten oder unsicheren Beschäftigungsverhältnissen. Junge Frauen entscheiden sich zunehmend gegen eine Ehe und Mutterschaft, weil darin keine gleichberechtigte Partnerschaft möglich zu sein scheint. Der an die alten Dynamiken der Kaiserzeit angelehnte Begriff der »Hölle Chosons« wurde für die weiblichen Millennials und die frühe Gen Z zum Inbegriff ihrer gesellschaftlichen Situation: Sie fühlen sich in einer Gesellschaft gefangen, die modernen Leistungsdruck mit vormodernen Hierarchien verbindet.
Und so gehen mit der Lebenswirklichkeit auch die gesellschaftspolitischen Einstellungen von Männern und Frauen immer weiter auseinander. Während Frauen angesichts ihrer krassen Benachteiligung immer stärker zum progressiven Lager tendieren, klammern sich die Männer an ihre tradierten Privilegien, deren ökonomische Basis längst der Vergangenheit angehört. Dieser auch aus anderen Industriegesellschaften bekannte Trend, der wesentlich zum Aufschwung des Rechtspopulismus beigetragen hat – das bekannteste Beispiel bietet hier Donald Trumps MAGA-Bewegung in den USA – ist nirgendwo so extrem ausgeprägt wie in der Republik Korea. Nicht zufällig war der offen antifeministisch auftretende Präsidentschaftskandidat der jungen Reformpartei, Lee Jun-seok, der als Drittplatzierter 8,3 Prozent der Stimmen erhielt, bei männlichen Wählern unter 30 Jahren mit 37 Prozent besonders erfolgreich[3].
Südkoreaner*innen liegen mit Blick auf Arbeitszeiten und Prekarität im OECD-Vergleich weit vorn. Frauen sind davon besonders betroffen. Sie verdienen durchschnittlich fast ein Drittel weniger als Männer. Damit belegt Südkorea bei der Lohnlücke den letzten Platz unter den Industrienationen. Zudem sind Frauen überproportional in prekären Beschäftigungsverhältnissen tätig. Ohne diese unsichtbare Arbeit würde das südkoreanische »Wirtschaftswunder« nicht funktionieren – und dennoch bleiben Frauen im offiziellen Erfolgsnarrativ ausgeblendet.
Dieser Widerspruch hat eine lange Geschichte. So wurden Frauen während der autoritären Militärregime der 1960er bis 1980er Jahre als »unsichtbare Reservearmee« in die Fabriken geschickt, um zu Niedriglöhnen in der Textil- und Elektroindustrie zu arbeiten. Die Bezeichnung Yeogong (»Fabrikmädchen«) war damals weit verbreitet. Gemeint waren junge Frauen, meist aus armen Familien, die unter harten Bedingungen in den Elektronikfabriken arbeiteten – und das oft zwölf Stunden täglich, während ihre Löhne kaum zum Überleben reichten.
Mit der Demokratisierungsbewegung der 1980er Jahre begannen Frauen ihre Stimmen in politischen Kämpfen zu erheben – nicht zufällig vor allem als Arbeiterinnen und Studentinnen. Die feministische Bewegung entstand deshalb im Bündnis mit Arbeiterkämpfen und Bürgerrechtsbewegungen.
Doch obschon die Demokratie- und Frauenbewegung, oft unter Berufung auf internationale Konventionen, wesentliche Eckpunkte rechtlicher Gleichstellung erkämpfen konnte, ist die Geschlechterungleichheit alles andere als gelöst. Die Frage, welches gesellschaftliche Fundament dem Wirtschaftswachstum zugrunde liegt, wird weiterhin zu Ungunsten der Frauen beantwortet. Die Folge sind chronische Überlastung, Entfremdung und ein Ausweichen in individuelle Rückzugsstrategien wie Singlehaushalte und Kinderlosigkeit.
Von den gesellschaftlichen Konventionen und wirtschaftlichen Bedingungen betroffen sind neben Frauen auch andere vulnerable Gruppen, vor allem Migrant*innen aus Südost- und Zentralasien. Sie arbeiten überwiegend in den Branchen, die Koreaner*innen selbst meiden: auf Baustellen, in der Landwirtschaft und in der Pflege. Auch den Migrant*innen bleiben, obwohl sie Teile der gesellschaftlichen Infrastruktur sichern, Anerkennung und Teilhabe verwehrt.
Will Südkorea die rasant wachsenden gesellschaftlichen Spannungen[4] lösen, die aus der Ungleichheit der Geschlechter resultieren, muss die Politik dieses Thema in den Mittelpunkt rücken. Präsident Lee steht deshalb vor einer großen Herausforderung. Denn sein Ansatz, innenpolitisch auf Sozialprogramme und außenpolitisch auf Entspannungspolitik zu setzen, trifft auf unsichtbare Mauern, die sich nicht per Erlass aus der Welt schaffen lassen. Man muss nur in die U-Bahn von Seoul steigen, um zu verstehen, wie tief sich Hierarchie und Unterordnung in das kollektive Bewusstsein eingeschrieben haben – und warum jede Reformpolitik rasch an Grenzen stößt, die weniger im Parlament als im sozialen Gefüge liegen.
Lees Aussage, dass »kein Frieden zu teuer« und in jedem Fall »besser als Krieg« sei, lässt sich auch als Aufforderung nach innen deuten: Sozialer Ausgleich ist immer günstiger als ein ständiger Kampf um Status, Anerkennung und Gleichberechtigung. Südkoreas Bewährungsprobe beginnt deshalb nicht an der Grenze zu Nordkorea oder in Verhandlungen mit Washington und Beijing, sondern in den Straßen, Büros und Wohnungen – und in der U-Bahn.
In seinen ersten hundert Tagen im Amt hat Lee Jae-myung einen Anfang gemacht. Offen aber bleibt die Frage, ob der Präsident den Mut und die Unterstützung findet, auch den tradierten gesellschaftlichen Hierarchien den Kampf anzusagen.
Canan Kus arbeitet im Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in der chinesischen Hauptstadt Beijing.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193908.suedkorea-im-u-bahn-tunnel-seouls.html