nd-aktuell.de / 10.09.2025 / Politik

Von der Leyen: Viele Worte, wenig Realismus

Ursula von der Leyens Rede zur Lage der EU lieferte das Erwartbare. Mit einer Ausnahme

Uwe Sattler, Straßburg
EU-Kommissionschefin von der Leyen am Mittwoch bei ihrer Rede
EU-Kommissionschefin von der Leyen am Mittwoch bei ihrer Rede

Es ist ein Ritual seit nunmehr 15 Jahren. Alljährlich im September begibt sich der EU-Kommissionspräsident – oder seit 2019 die Kommissionspräsidentin – nach Straßburg, um den Europaabgeordneten seine oder ihre Erfolge und hochtrabenden Visionen für die Zukunft Europas zu präsentieren. Ausnahmen gibt es natürlich. Etwa, als Ursula von der Leyen im Juli vergangenen Jahres, unmittelbar nach Konstituierung des neuen Europaparlaments, von diesem für eine zweite fünfjährige Amtszeit bestätigt wurde und ihre Bewerbungsrede zu einer Art Lagebericht umfunktionierte.

Ohnehin hat die deutsche Ex-Familien-, Ex-Arbeits- und Ex-Verteidigungsministerin die State-of-the-EU-Rede (SOTEU) zu einiger Perfektion getrieben. Kaum ein Jahr, in dem von der Leyen nicht blumige Versprechen im Gepäck hatte. Im Jahr 2020 war es die Ausrufung einer »digitalen Dekade« für Europa. Im September 2021, auf dem Höhepunkt der Covid-Pandemie, rief sie die Schaffung einer Gesundheitsunion aus. Ein Jahr später stand der europäische Green Deal zum Klimaschutz im Mittelpunkt. 2023 stellte die Kommissionschefin unter anderem die Dekarbonisierung der Wirtschaft und die Aufnahme weiterer Staaten in die EU in den Mittelpunkt ihrer Rede. Umgesetzt worden ist von den vielen Ideen der vergangenen Jahre wenig bis nichts.

Kommentar zum Thema: Atbekanntes mit neuen Tönen[1] – Uwe Sattler zu von der Leyens Rede zur Lage der EU

Ob die diesjährigen Vorschläge von der Leyens die EU zu einem solchen globalen Player machen können, der sie sein möchte, bleibt allerdings mehr als fraglich, sind sie doch ohne die Mitspieler gemacht – inner- und außerhalb der EU. Zu den Ideen gehört insbesondere die Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit durch eine »fünfte Grundfreiheit« für Forschung und Investitionen (neben jenen für Waren, Arbeitskräfte, Kapital und Dienstleistungen), die auch mit der Entwicklung einer »europäischen Künstlichen Intelligenz« umgesetzt werden soll. Natürlich durfte auch die Stärkung der Autoindustrie nicht fehlen – insbesondere durch eine Initiative für kleinere und kostengünstige Autos. »Die Zukunft der Autos muss in Europa geschrieben werden«, so von der Leyen. Wie das alles konkret angegangen werden soll, blieb offen. Immerhin: Auch die Beseitigung von Armut und die Sicherung bezahlbaren Wohnens, vor allem durch Anpassung staatlicher Unterstützung für sozialen Wohnungsbau, hat die Kommissionspräsidentin in ihr Statement aufgenommen. Dazu soll es schon bald einen »europäischen Wohnraumgipfel« geben. Bei den Europaabgeordneten dürfte diese Ankündigung gut ankommen, hat das Parlament doch vor einigen Monaten einen Sonderausschuss zum Thema Housing eingesetzt, der genau dies fordert.

Ein roter Faden zieht sich in den letzten Jahren allerdings durch die SOTEU-Reden: der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der Abschuss mutmaßlich russischer Drohnen über Polen und damit über Nato-Gebiet, in der Nacht zum Mittwoch gab dem Thema – nicht zu Unrecht – eine neue Brisanz. Auch in diesem Jahr wurde von der Leyen nicht müde, Russlands Angriffskrieg zu geißeln und weitere Unterstützung für die Ukraine zu versprechen, zusätzlich zu den ohnehin bereits knapp 170 Milliarden Euro an Militär- und Finanzhilfen. Mitgebracht hatte sie dazu den ukrainischen Jungen Sascha, der nach Russland entführt und von seiner Großmutter Ludmilla – ebenfalls anwesend – zurückgeholt wurde. Unterlegt war dies mit emotionalen Bildern, die die anwesenden MEPs mit Standing Ovations quittierten. Diplomatischen Initiativen erteilte die Kommissionschefin abermals eine faktische Absage: »Putin hat gezeigt, was er von Diplomatie hält.« Dafür will sie ein »Europäisches Semester der Verteidigung« – sprich die weitere Aufrüstung der EU.

Zumindest beim Thema Nahost hat sich von der Leyen – etwas – bewegt, vermutlich auch vor dem Hintergrund des israelischen Angriffs auf die Hamas-Führung in Katar am Vortag. Die Situation in Gaza sei »schrecklich«, kritisierte sie; eine Zweistaatenlösung die einzige Garantie für einen dauerhaften Frieden in Nahost. Konkret kündigte die Kommissionschefin einen teilweisen Stopp von Zahlungen an Israel an. Zudem würden Sanktionen gegen extremistische Minister und gewalttätige Siedler vorbereitet. Daneben soll den EU-Mitgliedstaaten vorgeschlagen werden, die im EU-Partnerschaftsabkommen mit Israel enthaltenen Handelsvereinbarungen auszusetzen. Damit kommt von der Leyen nicht nur Forderungen aus dem Parlament, sondern auch aus einigen EU-Hauptstädten entgegen[2]. Mit ihrer nahezu bedingungslosen Unterstützung der Netanjahu-Regierung war von der Leyen immer wieder angeeckt.

Scharfe Kritik aus dem Parlament musste sich von der Leyen zum »Zoll-Deal« der EU mit den USA[3] anhören. Viele im Parlament halten die Vereinbarung für ein Katzbuckeln gegenüber den USA. »Während Donald Trump die USA rasant in einen autoritären Staat umbaut, unterwerfen Sie europäische Politik den wirtschaftlichen und militärischen Interessen Washingtons«, erklärte Martin Schirdewan an die Kommissionschefin gerichtet. Ohnehin geht der Ko-Chef der Linksfraktion mit von der Leyen hart ins Gericht. »Ihre Politik steht für soziale Kälte und wirtschaftliches Scheitern«, sagt er gegenüber »nd«. »Während Millionen um ihre Jobs und ihre Rente bangen, treibt sie Freihandel, Aufrüstung und Sozialabbau voran. Die Mehrheit der Europäer fordert ihren Rücktritt. Es ist höchste Zeit, deren Ruf zu folgen.«

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193934.eu-parlament-atbekanntes-mit-neuen-toenen.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191738.israel-und-palaestina-die-eu-muss-handeln.html?sstr=Israel|von|der|Leyen
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1192906.zollstreit-einigung-zwischen-eu-und-usa-neue-handelskonflikte-programmiert.html?sstr=Zoll|Deal|USA