nd-aktuell.de / 10.09.2025 / Sport

Vincent Keymer beim Grand Swiss: Feuerwerk auf dem Schachbrett

Die gesamte Weltelite spielt gerade in Samarkand

Frédéric Valin
Zug um Zug Richtung Weltspitze: Vincent Keymer
Zug um Zug Richtung Weltspitze: Vincent Keymer

Der Hype kennt offenbar kein Ende: Endlich hat Deutschland wieder einen Schachspieler der absoluten Weltklasse. Als Vincent Keymer[1] im August zum ersten Mal in die Top Ten der Welt vorstieß, war davon überall zu hören und zu lesen. Und zu Recht: Der 20-Jährige hat bisher ein hervorragendes Jahr: Er dominierte die Deutsche Meisterschaft und gewann ein stark besetztes Turnier in Chennai. Dazu kam im Februar sein Triumph beim Freestyle-Event in Weissenhaus, als er sich unter anderem gegen Hikaru Nakamura[2], Fabiano Caruana und Magnus Carlsen[3] durchsetzte.

Das Kandidatenturnier ruft

Entsprechend groß waren die Erwartungen vor dem diesjährigen Grand Swiss in Samarkand, wo die 120 besten Spieler*innen aufeinandertreffen. Es ist nicht nur eines der wichtigsten Turniere in der Schachwelt[4], hier werden auch zwei Plätze fürs Kandidatenturnier vergeben – und wer dieses gewinnt, fordert dann im kommenden Jahr den indischen Weltmeister Gukesh Dommaraju[5] heraus.

Bis dahin aber ist es noch ein langer Weg. Umso steiniger ist er, als die junge Generation um Keymer, einen sehr viel riskanteren Spielstil[6] bevorzugt als die Etablierten. Keymer hat es im Interview mit »New in Chess« so ausgedrückt: »Ich kenne die Spieler meiner Generation sehr gut, und wir versuchen alle, jede Partie auszukämpfen.« Das macht das Spiel zwar deutlich interessanter, geht aber auch zulasten der Stabilität.

Komplizierte Endspiele

Das ist auch beim Grand Swiss zu beobachten. Nach zwei blitzsauberen Partien nahm Keymer in Runde drei gegen den 14-jährigen Türken Yağız Kaan Erdoğmuş sehr viel Risiko und wäre um ein Haar überspielt worden, rettete dann aber das Remis. In der nächsten Runde gegen Landsmann Frederik Svane hatte Keymer einen erheblichen Eröffnungsvorteil, verkünstelte sich aber anschließend und gewann nur aufgrund der Fehler seines Gegners. Gegen den Franzosen Marc’Andria Maurizzi verließ ihn das Glück: In einem ausgeglichenen Läufer-Endspiel übersah er in Zeitnot einen möglichen Durchbruch seines Gegners und verlor nicht nur die Partie, sondern auch den Anschluss an die Spitze. Davon unbeeindruckt kämpfte er anschließend in einem komplizierten Endspiel den Armenier Robert Howhannisjan nieder – und machte wieder Boden gut.

Bei einem derart stark besetzten Turnier braucht es eine außergewöhnliche Leistung, um sich durchzusetzen: Gerade ist die Hälfte aller Partien gespielt – und bislang ist es nur sieben Spielern gelungen, unbesiegt zu bleiben. Unter ihnen ist auch ein weiterer Deutscher: Europameister Matthias Blübaum spielt ein fabelhaftes Turnier. Unbeeindruckt vom Hype um seinen Landsmann hat es der 28-Jährige mit grundsolidem und sehr stabilem Schach geschafft, sich oben festzubeißen, nur einen halben Punkt liegt er hinter dem iranischen Spitzenreiter Parham Maghsoodloo.

Ähnlich gut zeigt sich beim zweiwöchigen Grand Swiss, das noch bis zum 15. September läuft, die 26-jährige Dinara Wagner: Obwohl sie ihre letzte Partie gegen Kateryna Lagno verlor, ist sie bei den Frauen[7] nur einen Punkt von der Spitze entfernt.

Suboptimale Eröffnungen

Im Schach Trends auszumachen, ist schwierig. Eine Tendenz geht dahin, den Gegner mit leicht suboptimalen Eröffnungen aufs Glatteis führen zu wollen. War es früher üblich, dass die Topspieler bei großen Turnieren vor allem dadurch zu gewinnen versuchten, indem sie nicht verloren, ist inzwischen mehr Risiko ins Spiel eingezogen. Das Motto: Es geht auch schon mal schief, aber bei wem es häufiger gut geht, der steht zu Recht oben.

Diese Spielweise hat in Samarkand schon zu einer Masse an komplizierten und nervenzehrenden Endspielen geführt, die zu durchschauen selbst mithilfe von Computern schwer ist. Während der Übertragungen brach die Weltklassespielerin und Kommentatorin Judit Polgár zwischendurch minutenlang in freudiges Gelächter aus ob der Komplexität der Endspiele. Die individuelle Brillanz zeigt sich nicht mehr in den ersten 20 Zügen, sondern erst nach vier Stunden Spielzeit.

Diese Entwicklung scheint der jüngsten Generation sehr zu liegen, die gerade laut an das Tor zur Weltspitze klopft: Sowohl der 14-jährige Erdoğmuş als auch der zwei Jahre ältere US-Spieler Abhimanyu Mishra sind im Turnierverlauf noch unbesiegt. Mishra gelang es gar, Weltmeister Dommaraju zu schlagen. Nach Jahren der Dominanz durch den Norweger Carlsen ist das Schach nun derart durcheinandergewürfelt, dass offenbar fast alles passieren kann.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1140464.schach-an-die-weltspitze-denken.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1162498.schach-boom-im-internet-das-geld-liegt-im-netz.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1159520.magnus-carlsen-einmal-genial-sein-reicht-fuer-die-schach-krone.html
  4. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188698.schach-sexismus-am-brett-maennliche-anfeindungen-auch-beim-tata-steel.html
  5. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1187531.schach-wm-weltmeister-dommaraju-gukesh-und-die-rueckkehr-der-romantik.html
  6. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190261.schach-grossmeisterin-heinemann-die-decke-an-talenten-ist-duenn.html
  7. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190682.schach-wm-ermattungsexpertin-ju-wenjun-verteidigt-ihren-wm-titel.html