Wenn ein Jurist die Ambivalenz der Konstruktion und Wirklichkeit der Europäischen Union lobt, muss er gute Gründe dafür anführen. In seinem Buch »Verschlungene Staaten« leitet Ulrich Haltern dieses Lob aus der Geschichte und Praxis der europäischen Integration ab, nicht ohne auf die Begrenzungen der aus der Ambivalenz erwachsenden Möglichkeiten hinzuweisen. Der Professor für Europarecht und Rechtsphilosophie an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität beschreibt die Struktur der EU mit dem Bild einer Doppelhelix. Deren zwei Stränge von den mittlerweile 27 Mitgliedstaaten beziehungsweise von der Union selbst ausgehen. Hier treffen Elemente des Intergouvernementalismus, repräsentiert durch den Europäischen Rat der Staats- beziehungsweise Regierungschefs der Mitgliedstaaten, und solche der Supranationalität der Kommission, dem Europäischen Gerichtshof und dem Europäischen Parlament aufeinander. Beide Stränge bleiben nach Auffassung des Autors unbefriedigend: »Die staatliche Seite muss sich befragen lassen, ob sie noch ausreichenden Raum zur politischen Gestaltung der Lebensverhältnisse ihrer Bürger hat. Die unionsrechtliche Seite muss sich befragen lassen, ob die Union dort, wo sie autonom handeln darf, ihrerseits demokratischen Grundsätzen folgt und ein ihrer Herrschaftsmacht angemessenes demokratisches Legitimationsniveau besitzt.« Diese ständig neu auszutarierende und auf die Probe gestellte »Verschlingung« der Einzelinteressen der Mitgliedstaaten mit dem Unionsinteresse mache die anstrengende wie auch fruchtbar zu nutzende Ambivalenz in der EU aus.
Es gelingt dem Autor, Aufbau und Funktionsweise der EU allgemeinverständlich darzustellen, ohne auf die rechts- und politikwissenschaftlichen Grundlagen zu verzichten. Er behandelt die Wechselwirkungen zwischen mitgliedstaatlichen und unionseigenen Akteuren und die Kontrollmöglichkeiten auf staatlicher und europäischer Ebene. Er schildert, auch für Nichtjuristen gut lesbar, die Integrationsverfassung und führt die EU-Wirklichkeit an drei Bestandteilen ihrer Mechanik aus: Konstitutionalisierung, Regulierung und Effektuierung.
Von einigen Schaubildern unterstützt, veranschaulicht Haltern das Ineinandergreifen dieser Mechanik, führt Beispiele für das gelegentliche Knirschen im Getriebe an und stellt mit einer positiven Verwunderung dessen überwiegend lautloses Funktionieren fest. Die Machtstrukturen innerhalb der EU beschreibt der nicht nur in rechtlichen Kategorien denkende Autor als »hybrid«. Sie können also je nach Bedarf oder Gewicht mal von dem gouvernementalen Strang, also dem Rat der 27 Staats- beziehungsweise Regierungschefs ausgehen, oder auch von den supranationalen Organen wie der Kommission oder dem Parlament, meist nach vorheriger informeller oder formeller Übereinkunft auf beiden Ebenen. Das Abstimmen unter den 27 Mitgliedstaaten einerseits und das Einpassen in die Vorstellungen der Union ist langwierig, gelingt nicht immer und ist Quelle des Verdrusses über Europa in den Bevölkerungen der Migliedstaaten, aber auch bei manchen politisch Verantwortlichen. Dieser Abstimmungsprozess führt jedoch einerseits zur Mäßigung, zur Vermeidung von Fehlern und zu einer gewissen Harmonisierung der Lebensverhältnisse in den einzelnen Staaten auf Unionsniveau. Über einen robust ausgebildeten Zugang zum Europäischen Gerichtshof sei gewährleistet, dass die Vorrang genießenden Unionsvorschriften dort ankommen und durchgesetzt werden können, wo sie hingehören.
Absehbar, schreibt Haltern, sei, »dass der Plot der europäischen Integration weiterhin so exakt abläuft, wie er bisher abgelaufen ist: Auf die Probleme und Wahlmöglichkeiten werden die Staaten mit einer hybriden Emanzipation von Entscheidungsmacht auf die europäische Ebene reagieren; dort erfährt diese Macht massive Verstärkung, löst sich teilweise vom Staatenwillen und löst eine Ambivalenz aus, die sich in Spannungen äußert.« Der Autor zieht aus den Erfahrungen der Vergangenheit den optimistischen Schluss, dass dieser Plot, den »wiederholt in stürmischer See erfolgten Umbau des europäischen Tankers auf hoher, stürmischer See« ermöglicht habe. »Der Staat wird als eigener Vorstellungsraum politischer Vergemeinschaftung nicht verschwinden. Er wird sich aber auch nicht des Gemeinsamen entledigen.«
Ulrich Haltern: Verschlungene Staaten. Die paradoxe Mechanik der europäischen Integration. C.H. Beck, 303 S., geb., 38 €.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193948.europaeische-union-ambivalente-doppelhelix.html