»Wozu Antisemitismus?« So lautet knapp der Titel der ersten von Ilka Quindeaus drei Adorno-Vorlesungen aus dem Jahr 2023, die auch den drei Kapiteln in dessen Buch »Psychoanalyse und Antisemitismus« entsprechen. Dies gibt die Richtung der Untersuchung vor; mit der Frage nach dem Zweck stellt die Autorin sich in die Tradition der frühen Kritischen Theorie[1], die nach psychodynamischen Erklärungen der Empfänglichkeit für Antisemitismus[2] suchte. Damit tritt die Soziologin und praktizierende Psychoanalytikerin aus dem Definitions- und Zuweisungsmodus gegenwärtiger Debatten heraus. Dass Quindeaus vor dem folgenschweren 7. Oktober 2023 gehaltenen und danach (trotzdem) in diesem Jahr in Buchform herausgegebenen Vorträge für Selbstkritik statt Schuldzuweisungen oder Antisemitismusdefinitionen[3] plädieren, macht sie nicht zu Apologien der (neuen) Antisemiten. Vielmehr gilt das Erkenntnisinteresse der Psychoanalytikerin der Wurzel, Funktion und Persistenz antisemitischer Meinungen, die in ihrer unbewussten Form gesellschaftlich überall vorkämen, eben nicht nur bei den »weltanschaulichen Antisemiten«.
Die Herangehensweise ist auch der Person der Autorin zu verdanken, die nicht nur als Theoretikerin, sondern auch als analytische Therapeutin tätig ist, woran sie die Lesenden mit illustrativen Anekdoten aus ihrer Praxis teilhaben lässt. Das Buch knüpft in ideologiekritischer Absicht an jene Verzahnung von Psychoanalyse und Gesellschaftskritik an, von der sich Theodor W. Adorno vor nicht ganz 100 Jahren »volle Einsicht in den Zusammenhalt der gesellschaftlichen Totalität« erhoffte. Zugleich unterzieht Quindeau zentrale Paradigmen der Frankfurter Schule – etwa den autoritären Charakter oder die These von der Schuldabwehr, die im Antisemitismusdiskurs in Deutschland zu kanonisierten Erklärungsmustern wurden – einer eingehenden Kritik.
Quindeaus vermittelnder Einsatz sollte nicht als Harmoniebedürftigkeit oder naive Verklärung verstanden werden. Für den Umgang mit Antisemit*innen empfiehlt sie ein klares Vorgehen: soziale Ächtung. Im Fokus steht für sie jedoch die Frage, was es bedeutet, dass Antisemitismuskritik dem Antisemitismusvorwurf gewichen zu sein scheint. Hier setzt Quindeaus kritische Neubetrachtung des Versuchs an, psychodynamische und gesellschaftskritische Perspektiven zusammenzubringen: Welche Funktion erfüllt vielleicht auch die Abwehr des Antisemitismus der Anderen?
Im ersten Teil zeichnet die Autorin ideengeschichtlich die Hinwendung Adornos und Max Horkheimers zur Psychoanalyse nach. Während sie kritisiert, dass Adorno das Unbewusste im Namen der Versöhnung des beschädigten Subjekts abschaffen wolle, spricht sich Quindeau positiv für das Verständnis von Psychoanalyse als epistemologischer Disziplin aus. Es gehe also um eine Wissenschaft, die nicht bloß eine Erkenntnis über etwas sein will, sondern die Reflexion auf das eigene Erkenntnisinteresse und die Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis methodisch in Anspruch nimmt. Das Unbewusste als irrationales Andere des aufgeklärten Subjekts lasse sich nicht, wie die Illusion von Rationalität vorgaukelt, auflösen und überwinden. Dieser Vorstellung setzt die Autorin ein mit dem französischen Psychoanalytiker Jean Laplanche gewonnenes Konzept der Alterität (von lat. alter, »der Andere«) entgegen. Darin kommt dem Fremden, dem Anderen, eine konstitutive Rolle für das Subjekt zu, die es aufrechtzuerhalten gilt – sowohl in Form des Gegenübers als auch in Form des Unbewussten. Dies sind Überlegungen, die auch in Adornos »Negativer Dialektik« vorkommen, laut der Autorin jedoch in den Untersuchungen zum Antisemitismus zu kurz kämen.
Quindeaus Dekonstruktion der tradierten Konzepte der Frankfurter Schule trifft als Erstes die ursprünglich von Erich Fromm entwickelte »authoritarian personality«, den autoritären Charakter. Die Reduzierung antisemitischer Einstellungen auf feste Persönlichkeitsstrukturen habe heute keine Erklärungskraft mehr und verenge den Blick auf Formen des Antisemitismus, die antiautoritär daherkämen. Quindeau plädiert dafür, die Empfänglichkeit für antisemitische Meinungen darüber zu verstehen, dass diese vermeintlichen Lösungen für konflikthafte Begehrensstrukturen bieten. Ausschlaggebend sei hier die Ambiguitätsintoleranz einer Person: die (Un-)fähigkeit, Komplexität, Ungewissheit und Mehrdeutigkeit emotional, kognitiv und moralisch auszuhalten. Dies versteht die Autorin, anders als beispielsweise die Psychoanalytikerin Else Frenkel-Brunswik, aber auch nicht als Persönlichkeitsausdruck, sondern als fluide psychologische Position, die in der Bearbeitung von Ambiguitätskonflikten permanent (nicht nur in der Kindheit) aktualisiert werde.
Die Erfahrung von Widersprüchlichkeit hat zugenommen in einer Gesellschaft, die ihre Konflikte vermehrt auf das Individuum auslagert.
Widersprüchlichkeit sei zwar eine menschliche Grunderfahrung, habe aber in der Moderne, darin folgt Quindeau Autor*innen wie Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey, in Menge und Intensität zugenommen – in einer Gesellschaft, die ihre Konflikte vermehrt auf das Individuum auslagert. Die wachsende Unklarheit darüber, was in einer globalen Gesellschaft mit veränderter Arbeitswelt und liberalisierten Geschlechtsvorstellungen »das Eigene« und was das Fremde, Andere sei, bei gleichzeitigem Ideal des selbstbestimmt identitär klar umrissenen Subjekts, mache anfällig für antisemitische Semantiken. Diese böten »den Juden« als zu bekämpfende Gegenschablone an, indem sie ihn zur Projektionsfläche der wurzellosen Nicht-Identität machten, die all das in sich selbst Abgewehrte verkörpere. Dadurch komme dem Feindbild gerade seit der Moderne ein psychisch stabilisierender Charakter ebenso zu wie ein herrschaftsstabilisierender.
Im zweiten Hauptteil nimmt Quindeau sich das Motiv der Schuldabwehr vor, das in den Analysen des Antisemitismus von zentraler Bedeutung ist. Ihre Gegenthese dazu lautet, dass die Abwehr sich nicht gegen Schuldgefühle richtet, sondern gegen den Schuldvorwurf. Zur Untermauerung zieht sie Protokolle des Gruppenexperiments heran, einer großangelegten empirischen Untersuchung, die das Institut für Sozialforschung unmittelbar nach der Rückkehr von Horkheimer, Pollock und Adorno aus dem US-amerikanischen Exil durchführte. Das von US-Behörden mitfinanzierte und in Auftrag gegebene Experiment war ein methodisch revolutionäres Gruppendiskussionsverfahren zur Untersuchung der kollektiven Mentalität der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft.
Obgleich sie selbst interdisziplinär forscht, kritisiert Quindeau die Vermengung der Disziplinen und ihrer Terminologien in der Deutung der Ergebnisse durch Adorno und Kolleg*innen. Sie unterscheidet klar zwischen psychischer und strategischer Abwehr und kommt bei einer systematischen Neubewertung der Aufzeichnungen zu dem Ergebnis, dass den Teilnehmenden der Studie die zugrundeliegenden (unbewussten) Schuldgefühle zu fehlen scheinen, die überhaupt eine psychische Abwehr veranlassen würden. In Konsequenz dessen verschiebt die Autorin den Fokus bei der Auslegung der von den Teilnehmenden getätigten Äußerungen: Von der These der Schuldabwehr gelangt sie zur These, dass die deutlich durchscheinenden Gefühlsbindungen an den Nationalsozialismus das Bewusstsein von Schuld verstellten.
Das abschließende Kapitel widmet Quindeau den antisemitischen Dynamiken der Gegenwart. Sie analysiert, wie unbewusste gesellschaftliche Codes in den öffentlichen Diskurs übersetzt werden und in welchen Formen die strategische Verantwortungsabwehr der Nachkriegsdeutschen heute aktualisiert fortbesteht. Das geschehe beispielsweise in der instrumentellen Anerkennung von Schuld – sowohl da, wo sie mit der Forderung nach einem Ende der Vergangenheit einhergehe, als auch da, wo »German Guilt« als einziger Grund für israelsolidarische Haltungen behauptet würde. Quindeaus Schlussthese, dass »Antisemitismus als Potentialität in uns allen« steckt, bestärkt das Eintreten der Autorin für die Psychoanalyse als erkenntnistheoretische Methode. So ließe sich zwar das Gespenst des Antisemitismus nicht zur Ruhe bringen, wohl aber die Debatte um Schuld, Abwehr und Projektion präzisieren.
»Psychoanalyse und Antisemitismus« erweist sich als gutes Beispiel und zugleich überzeugendes Plädoyer für ein aufklärerisches Erkenntnisunternehmen, das psychoanalytische und gesellschaftstheoretische Perspektiven vereint. Dabei schafft es Quindeau, die einzelwissenschaftlichen Grenzen aufrecht zu halten und trotzdem die gesellschaftliche Totalität in den Blick zu bekommen.
Ilka Quindeau: Psychoanalyse und Antisemitismus. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2023. Suhrkamp 2025, 284 S., br., 32 €.