nd-aktuell.de / 11.09.2025 / Kultur

Von wegen Staatsräson

Die Lage der erkämpften NS-Gedenkstätten ist bis heute in vielerlei Hinsicht prekär. Seit dem 7. Oktober 2023 stieg die Zahl der tätlichen Angriffe

Dagmar Lieske, Doris Liebscher, Johannes Spor
Auch das gibt es: antifaschistische Schmierereien in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg
Auch das gibt es: antifaschistische Schmierereien in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg

Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.» So war es auf einem Gedenkstein an die Opfer des Todesmarschs aus dem KZ Buchenwald in der Nähe der Stadt Sonneberg zu lesen. Seit Kurzem ist das Wort «Nazismus» durchgestrichen, darüber hat jemand in großen Buchstaben «Zionismus» geschrieben. Das ist bei Weitem kein Einzelfall: Mitarbeiter*innen von NS-Gedenkstätten in Deutschland berichten von immer häufigeren Schmierereien, Schändungen, Zerstörungen sowie persönlichen Bedrohungen und Angriffen. Stolpersteine werden mit roter Farbe beschmiert, Gedenkstätten legen keine Gästebücher mehr aus, weil diese voller antisemitischer und antizionistischer Hassbotschaften sind. «Befreie dich vom Schuldkult» und «Free Palestine! End Israeli Occupation» war schon im Oktober 2023 auf Aufklebern zu lesen, mit denen Nazis mehrere Gedenktafeln in der NS-Gedenkstätte Ahlem in Niedersachsen beklebten.

Die Gedenkstätte befindet sich am Ort einer ehemaligen jüdischen Gartenbauschule, die den Nationalsozialisten als Haft- und Hinrichtungsstätte sowie als Sammelstelle für Deportationen von Juden und Jüdinnen in die Vernichtungslager diente. Die Aufkleber stammten von der Neonazigruppe Junge Nationalisten, deren Mutterpartei Die Heimat (ehemals NPD) am 10. Oktober in Dortmund eine Palästinafahne und ein großes Transparent mit der Parole «Israel ist unser Unglück!» aufgehängt hatte – eine Reminiszenz an den Satz «Die Juden sind unser Unglück» von Heinrich von Treitschke, der im NS zur Parole des antisemitischen Hetzblattes «Der Stürmer» wurde.

Die absolute Mehrheit der Angriffe auf das Holocaust-Gedenken geht weiterhin von Rechten aus – gleichzeitig sind es seit dem 7. Oktober 2023 aber auch vermeintlich linke und progressive Akteur*innen, die die Erinnerungsorte implizit oder explizit angreifen. So kündigten linke Gruppen im Vorfeld der Gedenkfeier im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen Proteste auf dem Gedenkstättengelände an. Begründet wurde der geplante Protest in einer Erklärung der «Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost» unter anderem mit einem geplanten Auftritt des israelischen Botschafters Ron Prosor. Wenige Wochen zuvor hatte es eine öffentlich ausgetragene Auseinandersetzung zwischen der Leitung der Gedenkstätte Buchenwald und der israelischen Botschaft um die Einladung des Philosophen Omri Boehm gegeben, auf die sich die Proteste der Jüdischen Stimme bezogen.

Auch wenn man den Druck, den die Botschaft hier ausübte, kritisieren kann, rechtfertigt dies keine Protestkundgebung ausgerechnet am Jahrestag der Befreiung eines ehemaligen Konzentrationslagers. Im Fall des Gedenkens in Bergen-Belsen blieben die Proteste zum Glück aus und es konnte den Überlebenden und Angehörigen ein würdiges Gedenken ermöglicht werden. Denn dafür sind diese Gedenkfeiern da. In der KZ-Gedenkstätte Buchenwald kam es indes im April zu einem Vorfall auf der Gedenkfeier zum 80. Jahrestag der Befreiung des Lagers. Eine junge spanische Rednerin eines internationalen Jugendprojekts, die nach dem 92-jährigen Überlebenden Naftali Fürst sprach, beendete ihren Beitrag mit den Worten «Stop the genocide in Gaza» und «No pasaran». Der Gedenkstättenleiter Jens-Christian Wagner kritisierte, dass die Form der Gleichsetzung, die sie insinuierte, nicht akzeptabel sei.

Forderung nach Universalisierung

Geleitet werden diese Proteste von der erinnerungskulturellen Forderung einer Universalisierung des Gedenkens, also dem stärkeren Einbezug anderer historischer Gewaltformen in die deutsche Erinnerungskultur. Hier reproduziert sich der «Historikerstreit 2.0», bei dem erbittert über das Verhältnis zwischen Shoah und Kolonialismus gestritten wird[1]. Im Kern geht es um die Frage, ob die Shoah als singulär beziehungsweise als präzedenzlos zu begreifen ist oder in eine universale Geschichte von Gewaltverbrechen einzuordnen ist. Diese Diskussion mag historisch und erinnerungspolitisch sinnvoll sein. Wenn die «Universalisierungthese» dazu führt, die vorrangige Aufgabe von NS-Erinnerungsorten darin zu sehen, sich zu Israel/Palästina zu positionieren und nicht an die dort von Deutschen und ihren europäischen Verbündeten begangenen Verbrechen zu erinnern, besteht die Gefahr einer Einebnung der Unterschiede und Relativierung der Geschichte. In Gaza gibt es kein Treblinka, kein Sobibor, kein Majdanek.

Die Universalisierung geht nicht selten mit der Forderung nach einem erinnerungspolitischen «Schlussstrich» einher. So kritisierte Hanno Hauenstein im «Freitag», die deutsche Erinnerungskultur beruhe in weiten Teilen auf «Phrasen», «die weder den Verbrechen unserer Vergangenheit standhalten – noch denen der Gegenwart, an denen Deutschland gerade aktiv mitwirkt». Yossi Bartal ging im «nd» noch weiter:[2] Er forderte, angesichts von «mittlerweile mehr als 300 Gedenkstätten für Nazi-Opfer im deutschen Staatsgebiet und »80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, in einer Welt, in der das Gedenken daran von Politikern der Grünen bis Putin und Netanjahu als Freikarte für weitere Verbrechen instrumentalisiert wird, sollten wir unsere Beziehung zur Vergangenheit neu denken, die Toten allmählich ihre Toten begraben lassen und damit Platz für eine bessere neue Welt schaffen«.

Der Status quo der Erinnerungsorte ist keineswegs gesichert, auch nicht der großen Gedenkstätten.

-

Wer derart auf die Aufarbeitung der NS-Verbrechen schaut, homogenisiert polemisch »die Erinnerungskultur«, stellt falsche Erwartungen an sie und fällt jenen in den Rücken, die diese seit 1945 gegen Ignoranz und Widerstände erkämpft haben. Aufarbeitung, Entschädigung und Erinnerung an den NS-Terror waren immer umkämpft und sind es bis heute. Die Täter*innen blieben in der Regel straflos, die Überlebenden wurden kaum entschädigt, viele Shoah-Überlebende in Deutschland leben bis heute in Armut und streiten – wie der niederländische Autor Salo Muller, dessen Eltern mit der Reichsbahn nach Auschwitz in den Tod deportiert wurden – um stets verwehrte Entschädigungen.

Der Status quo der Erinnerungsorte ist keineswegs gesichert, auch der großen Gedenkstätten nicht. Die Arbeit findet bis heute vielerorts unter prekären Bedingungen statt. Die Personaldecke ist in der Regel zu dünn, die hochqualifizierten Mitarbeiter*innen sind schlecht bezahlt, die Orte angesichts der Anforderungen, die an sie gestellt werden, insgesamt unterfinanziert. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die meisten NS-Erinnerungsorte in Deutschland durch hartnäckige und langwierige Kämpfe von Überlebenden, Aktivist*innen und engagierten Historiker*innen entstanden und weiterentwickelt worden sind. Es handelte sich dabei nicht um von Beginn an staatlich erwünschte und geförderte Institutionen – ganz im Gegenteil. Die post-nationalsozialistischen Gesellschaften in Westdeutschland und im familiären Kontext auch in Ostdeutschland sowie in Österreich waren jahrzehntelang geprägt von dem Wunsch nach Verdrängen, Vergessen und der Rehabilitierung der Täter*innen.

Überlebende der NS-Verbrechen wie auch ihre Nachfahren lebten meist allein mit ihren Traumata, den physischen und ökonomischen Folgen von Haft und Verfolgung – wenn sie denn überhaupt wieder in Deutschland Fuß fassen konnten und wollten. Auch wenn sich der Umgang mit dem Nationalsozialismus in beiden deutschen Staaten bis 1990 fundamental unterschied, fand eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit Antisemitismus, den nationalsozialistischen Verbrechen und dem Holocaust weder in der BRD noch in der DDR statt – genau das wurde von Initiativen und Einzelpersonen der Erinnerungsarbeit, darunter auch Mitarbeiter*innen von NS-Gedenkstätten, immer wieder kritisiert und stattdessen »Geschichte von unten« in Basisorganisationen betrieben.

Erinnerungsweltmeister Deutschland?

In der Bundesrepublik setzte in den 1960er und 1970er Jahre langsam eine gesellschaftliche Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit und des Holocaust ein, angestoßen durch Initiativen einzelner Engagierter, der VVN-BDA, der Aktion Sühnezeichen, von kritischen Jurist*innen wie Fritz Bauer sowie Teilen der außerparlamentarischen Linken. Gleichzeitig muss auch der weitläufigen Meinung, »die 68er« hätten die NS-Geschichte aufgearbeitet, entgegengehalten werden, dass es den größten Teilen der studentischen Bewegungen von Anfang an nicht um eine Auseinandersetzung mit dem NS-Antisemitismus und dem Holocaust ging, sondern die Beschäftigung mit nationalsozialistischen Eliten und Kontinuitäten im Vordergrund stand.

Auf dem Höhepunkt der Bewegung spielte auch diese nach innen gerichtete »Vergangenheitsbewältigung« keine Rolle mehr, im Zentrum des politischen Interesses stand vielmehr – wie in der DDR – der antiimperialistische Kampf und damit der »Faschismus« in anderen Ländern: den USA, Südafrika, Rhodesien und Israel. Viele deutsche Linke, die nicht in der Lage waren, um die Ermordeten der Shoah zu trauern und sich der Verantwortung der eigenen Familienangehörigen lieber entledigen wollten, entlasteten sich seit den 1970er Jahren auch durch die Identifikation mit den Palästinenser*innen. Anstatt sich damit zu beschäftigen, welche Bedeutung der jüdische Staat auch für Überlebende des Holocaust hatte, wurde er in den Augen vieler Linker nun einzig zum »Täter«. Dieter Kunzelmann, dessen mit der Gruppe Tupamaros West-Berlin (TW) geplanter Bombenanschlag am 9. November 1969 auf das Jüdische Gemeindezentrum in Berlin missglückt war, erklärte wenig später: »Palästina ist für die BRD und Europa das, was für die Amis Vietnam ist. Die Linken haben das noch nicht begriffen. Warum? Der Judenknax.«

Die deutsche NS-Vergangenheit und das Sprechen über Israel/Palästina sind zweifellos diskursiv miteinander verwoben. Die Hälfte der heute noch lebenden Holocaust-Überlebenden wohnt in Israel, das auch aufgrund des Holocaust eine hohe – auch symbolische – Bedeutung für Jüdinnen und Juden weltweit hat. Diese Bedeutung besteht unabhängig davon, dass die israelische Rechte Kritik an Besatzung und unmenschlicher Kriegsführung als antisemitisch diskreditiert. Und diese grundsätzliche Bedeutung eines israelischen Staates für viele jüdische Menschen darf weltweit, aber vor allem im deutschen Kontext nicht unberücksichtigt bleiben. Zum deutschen Kontext zählen dabei einerseits all jene Menschen, die in Deutschland leben mit familiärem Nazihintergrund. Das schließt die Urenkel deutscher Täter*innen ebenso ein, wie die Nachkommen spanischer und italienischer Faschist*innen.

Zum deutschen Kontext zählen aber auch die Orte und Institutionen, die unser Leben alltäglich bestimmen. Das arisierte Mietshaus, die von jüdischen Professoren und Studierenden »gesäuberte« Universität, das aus Aufsichtsratstantiemen großer deutscher Unternehmen mitfinanzierte Studienstipendium, der von Zwangsarbeiter*innen erbaute Bootskanal usw. – die Spuren des NS sind in Deutschland allgegenwärtig. Diese spezifisch deutsche Vergangenheit und ihre aktuellen Rekuperationen betreffen alle Menschen, die in Deutschland leben, ob mit oder ohne Migrationsgeschichte, ob mit oder ohne familiären Nazi- oder Naziunterstützerhintergrund. Die Parole »Free Palestine from German guilt« – ob nun verbreitet von linken, palästinasolidarischen Studierenden an Universitäten oder auf einer Friedensdemo rechter Verschwörungsideologen am Brandenburger Tor – entspringt dem Begehren, sich mit dieser Vergangenheit zu versöhnen oder begünstigt dieses in der deutschen Gesellschaft tief verankerte Motiv.

Zweifelsohne instrumentalisieren Rechte und Konservative den Kampf gegen Antisemitismus immer wieder für ihre migrationsfeindliche Agenda. Insbesondere das rechte und konservative politische Lager verengt den Antisemitismus derzeit auf zwei Erscheinungsformen: Antisemitismus im linken Kontext und Antisemitismus im Kontext migrantischer Communitys. Im ersten Fall ist die politische Agenda hier extremismustheoretisch gegen links gewendet, im zweiten Fall wird die rassistische Karte, um eine Law-and-order-Politik und ein Abschieberegime durchzusetzen. Exemplarisch lässt sich das am Bundeskanzler Friedrich Merz aufzeigen: Auf die Frage, was er in seinem Land tue, um Antisemitismus einzudämmen, antwortete Merz in einem Interview des US-Senders »Fox News«, es gäbe »eine Art importierten Antisemitismus mit dieser großen Zahl von Migranten«. Derselbe Friedrich Merz verweigert sich einer öffentlichen Auseinandersetzung mit seinem Großvater Josef Paul Sauvigny, der Mitglieder in der NSDAP sowie der SA war.

All dies ist zu kritisieren. Wenn jedoch eine vermeintliche Solidarität mit Palästinenser*innen mit Angriffen auf die Erinnerungskultur an den Nationalsozialismus einhergeht, sollte sich eine politische Linke davor hüten, in diesen Kanon einzustimmen. Eine solche Entledigung der deutschen Geschichte legitimiert und befeuert den erstarkenden Antisemitismus und Rassismus in der deutschen Gesellschaft und hilft niemandem, außer dem rechten Rand, der längst kein Rand mehr ist. Eine vermeintlich progressive Strömung, die ausgerechnet daran erstarkt, wird zum Teil dieses gesamtgesellschaftlichen Problems.

Die Autor*innen sind im Bereich Erinnerungskultur und gegen Antisemitismus, Rassismus und rechten Terror aktiv.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1179531.historiker-innenstreit-unvergleichbar.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188360.befreiung-vom-nationalsozialismus-holocaust-gedenktag-mehr-erinnerungskritik-wagen.html?sstr=historikerstreit|20