nd-aktuell.de / 12.09.2025 / Politik

Gaza-Krieg und Propaganda: Arsendosen für den Verstand

Über den systematischen Missbrauch von Sprache im Zusammenhang mit dem Gaza-Krieg

David Ranan
Auch bei der Eröffnung der Ausstellung der jüdischen US-Fotografin Nan Goldin, »This Will Not End Well«, in Berlin wurde mit schwergewichtigen Begriffen hantiert.
Auch bei der Eröffnung der Ausstellung der jüdischen US-Fotografin Nan Goldin, »This Will Not End Well«, in Berlin wurde mit schwergewichtigen Begriffen hantiert.

In seinem 1947 erschienen Buch über die Macht der Sprache des Dritten Reiches, Lingua Tertii Imperii, schrieb Victor Klemperer[1]: »Worte können wie winzige Arsendosen sein: Sie werden unbemerkt verschluckt; sie scheinen keine Wirkung zu tun – und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.« Im Kampf um die öffentliche Meinung im Gaza-Krieg wird oft mit solchen Arsendosen hantiert – etwa zu den Themen Antisemitismus, Terrorismus, Selbstverteidigung, Genozid[2] oder Apartheid[3].

Tatsächlich ist eine Reihe von israelischen und internationalen Menschenrechtsorganisationen nach Untersuchungen zu dem Schluss gekommen, dass Israel ein Apartheid-System aufrechterhält. Trotzdem fühlten sich Politiker wie der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) berufen, Israels Regierung ohne fachliche Grundlage von diesem Vorwurf freizusprechen. Sein Nachfolger Friedrich Merz (CDU) ging noch weiter und stellte sich gegen die Einschätzung internationaler Genozid-Experten[4], die in Israels Vorgehen in Gaza einen Völkermord erkennen. Die Ansichten von Merz oder Scholz zum Völkermord und zur Apartheid sind jedoch genauso fundiert wie die von Donald Trump zu Corona-Impfstoffen. Das hätte auch die Antwort seriöser Medien darauf sein müssen.

Im Zusammenhang mit Israel und Palästina wird auch der Begriff Antisemitismus als politische Waffe eingesetzt. Selbst wenn sie in scharfer Sprache formuliert wird, ist Kritik an Israel nicht zwangsläufig antisemitisch. Für Palästinenser ist die Ablehnung Israels zunächst eine Reaktion auf jahrzehntelange Besatzung, Vertreibung und Unterdrückung – also politisch motiviert, nicht rassistisch oder antisemitisch. Dennoch nutzen israelische Regierungsvertreter und ihre Unterstützer den Vorwurf, um Gegner zum Schweigen zu bringen. Das ist gefährlich: Es schwächt den Kampf gegen echten Judenhass und verhindert eine sachliche Debatte über die Politik Israels.

Ähnliches gilt für den Begriff des Terrorismus. Er bedeutet, eine Person oder eine Gruppe so zu verängstigen, dass sie sich veranlasst fühlen, sich nach dem aufgezwungenen Willen zu verhalten. Die Bewertung von Taten als terroristisch dient jedoch oft dazu, politische Ursachen von Konflikten zu verschleiern und die eigene Bevölkerung auf Linie zu halten. Wer dennoch die Motive von als Terroristen Bezeichneten thematisiert, wird selbst zum Feind erklärt.

Gewöhnlich wird diese illegale politische Gewalt nicht-staatlichen Akteuren zugeschrieben – dabei können auch Regierungen und ihre Armeen oder Geheimdienste terroristische Operationen beauftragen und durchführen. Während allgemein akzeptiert ist, dass die Hamas eine solche terroristische Organisation ist, könnte auch Israels Verhalten gegenüber der palästinensischen Bevölkerung über Jahrzehnte hinweg so bezeichnet werden. Dennoch wird dies kaum diskutiert.

Ein weiterer Begriff, der im Zusammenhang mit Israels Krieg gegen Gaza missbraucht wird, ist »Selbstverteidigung«. Nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 beriefen sich westliche Politiker fast reflexartig auf Artikel 51 der UN-Charta. Jedoch wurde der Angriff der Hamas von Israel innerhalb weniger Tage beendet – alle folgenden Handlungen der israelischen Armee stellen demnach kein diesem Recht entsprechende Selbstverteidigung mehr dar. Inzwischen haben hochrangige israelische Regierungsangehörige auch wiederholt erklärt, dass sie den Gazastreifen vollständig zerstören wollen[5], da es dort »keine Unbeteiligten« gebe. Die Bevölkerung wird seit 23 Monaten bombardiert, ausgehungert und soll in andere Länder deportiert werden – danach sollen auf ihrem Land jüdische Siedlungen wachsen. Diese Handlungen der Atommacht Israel können kaum als Selbstverteidigung ausgelegt werden.

Dass Machthaber mit Sprache manipulieren wollen, ist nichts Neues. Wer sich dem nicht beugen will, muss die verwendeten Begriffe kritisch hinterfragen. Nur so kann eine ehrliche Auseinandersetzung mit den Realitäten des Konflikts gelingen. Denn wer unkritisch die Definitionen der Mächtigen übernimmt, verliert nicht nur seine Urteilsfähigkeit, sondern auch ein Stück seiner Freiheit. Nur eine informierte, kritische Öffentlichkeit kann den Weg zu einer gerechten Lösung ebnen – einer Lösung, die die Rechte und die Würde aller Beteiligten achtet.

David Ranan, geboren 1946 in Tel Aviv, ist Kultur- und Politikwissenschaftler. Seine Eltern flohen 1933 vor den Nazis ins damalige Palästina. Er ist Fellow des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin und forscht unter anderem zum deutschen Antisemitismus-Diskurs.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188263.victor-klemperer-von-mueh-und-not-und-von-hoffnung.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1192453.palaestina-gaza-israelische-kontrolle-als-werkzeug-der-unterdrueckung.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1160997.amnesty-bericht-zu-palaestina-parteinahme-fuer-unterdrueckte.html
  4. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193746.genozid-forscher-gaza-krieg-tatbestand-voelkermord.html
  5. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193502.gaza-krieg-sogenannte-kollateralschaeden.html