nd-aktuell.de / 14.09.2025 / Kommentare

Linke Juden sind kein Alibi

Unser Kolumnist beantwortet die Frage, ob Antikriegs-Stimmen von Juden nur ein Feigenblatt für Israelkritiker sind oder Symbole der Menschlichkeit

Yossi Bartal
Linke Aktivisten aus Israel demonstrieren immer wieder mit Bildern getöteter palästinensischer Kinder gegen die Kriegsführung ihrer Regierung.
Linke Aktivisten aus Israel demonstrieren immer wieder mit Bildern getöteter palästinensischer Kinder gegen die Kriegsführung ihrer Regierung.

Wenn man heute Menschen kennenlernt, ist die Kluft zwischen ihrer Online-Präsenz und ihrem Auftreten im echten Leben manchmal verblüffend groß. Ich habe schon Betreiberinnen von Accounts mit den besten Takes getroffen, die in Wirklichkeit so langweilig waren, dass ich sie am liebsten sofort weggeswiped hätte. Viel häufiger aber begegnet man extrem freundlichen und lustigen Menschen – nur um später festzustellen, wie peinlich sie sich im Netz präsentieren. Über Familienmitglieder schweigen wir besser.

So kenne ich eine Person, mit der jede Begegnung eine Freude ist – und die lobenswert auch ihre elektronische Reichweite benutzt, um gegen das Unrecht in Palästina zu protestieren. Vor allem tut sie das, indem sie regelmäßig Videos von jüdischen Menschen postet, die die Gräueltaten des israelischen Militärs[1] anprangern. Rabbiner mit langen Bärten, junge Queers[2] mit interessanten Haarschnitten oder gebrechliche Holocaust-Überlebende[3] mit zitternder Stimme – solange sie sich als jüdisch ausweisen und scharf Israel kritisieren, wird’s geteilt. Sicherlich hätte auch ein Video von mir dabei sein können.

Ich gehe davon aus, dass ihre Beweggründe wohlwollend sind. Vielleicht glaubt sie, man nehme den Protest einer Jüdin ernster als den eines Palästinensers, oder sie möchte die Botschaft vermitteln, man solle jüdische Menschen nicht mit dem Handeln des Staates Israel gleichsetzen. Trotzdem löst bei mir die Häufung solcher Posts Fremdscham aus.

Denn ich weiß, dass ihr Agieren auch schnell als Tokenism bezeichnet werden kann – ein Verhalten, bei dem Einzelpersonen aus einer bestimmten Gruppe hervorgehoben werden, um eine politische Position glaubwürdiger erscheinen zu lassen. In einer Welt, in der offene Diskriminierung offiziell noch verpönt ist, braucht man, um gegen die vermeintlichen Interessen einer Gruppe zu agieren, Alibi-Personen aus deren Reihen, um sich vom Vorwurf freizusprechen, Vorurteile zu hegen, so zumindest die Theorie.

So kann man sich zum Beispiel fragen, ob der Autor palästinensischer Herkunft Ahmad Mansour[4] von deutschen Medien so häufig eingeladen wird, weil er über besondere Expertise zur Geschichte des Nahen Ostens oder zur islamischen Theologie verfügt und neue Erkenntnisse einbringt – oder weil er primär eine Funktion in einem anti-arabischen Diskurs erfüllt? Böse Geister würden aber auch Ähnliches über mich fragen: Schreibe ich eine Kolumne im »nd«, weil die Redaktion meine Ansichten und meinen Stil schätzt, oder lediglich, weil sie und ihre Leserinnen und Leser einen Ex-Israeli brauchen, der ab und zu schlecht von seiner Heimat redet?

Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen jenen, die der Nation für ein universelles Ideal den Rücken kehren, und jenen, die sich schlicht einer anderen repressiven Macht andienen.

So eine Kritik am Tokenism übersieht jedoch oft, dass sie selbst befangen ist in einem identitären Feld, in dem klar definierte Minderheiten mit gemeinsamen Interessen und jeweiligen Repräsentanten existieren sollen – wer sich dort nicht einreiht, gilt schnell als fehlgeleiteter Abweichler. Diese Logik macht uns, zumindest diejenigen von uns, deren Herkunft, geschlechtliche Identität[5] oder religiöse Zugehörigkeit sie zur gesellschaftlichen Relevanz verdammt hat, zu nichts weiter als Spielbällen der Mehrheitsgesellschaft. Dieser essentialistischen Sicht und diesem Gruppendenken muss ich mich widersetzen.

Denn als linker Internationalist sehe ich keine Alternative zu einer bestimmten Illoyalität gegenüber der »eigenen« Gruppe, selbst wenn oppositionelle Stimmen innerhalb einer Community von Außen instrumentalisiert werden. Den wesentlichen Unterschied sehe ich – auch wenn ich eine gewisse Sympathie für alle Formen des Volksverrats hege – zwischen jenen, die der Nation für ein universelles Ideal den Rücken kehren, und jenen, die sich schlicht einer anderen repressiven Macht andienen.

Auch wenn ich dafür wirklich nicht gebraucht werde, sage ich es trotzdem: Man braucht keine jüdische Begleitung, um das laufende Verbrechen in Gaza zu kritisieren: Wenn ihr euch für Gleichheit und Gerechtigkeit für alle einsetzt, spielt es keine Rolle, welche Identitäten euch aufgezwungen wurden oder welche ihr euch selbst gewählt habt. Ihr steht an der Seite der Menschheit – und dafür braucht man kein Alibi.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193992.gaza-krieg-zerstoeren-und-entvoelkern.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193210.queeres-leben-csd-in-bautzen-ein-kraftvoller-regenbogen.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191119.shoah-holocaust-ueberlebende-margot-friedlaender-gestorben.html
  4. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1174887.islamismus-ahmad-mansour-maeandern-in-der-mitte.html
  5. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193966.leichtathletik-wm-geschlechtstest-die-uneindeutigkeit-der-gene.html